Tränen des Mondes
weit war sie noch nie barfuß gelaufen. Sie zog ihre Haube an den Bändern hinter sich her, die Haarkämme hatte sie in die Tasche gesteckt. Eine leichte Seebrise spielte mit ihren kräftigen roten Locken. Es war belebend und befreiend. Sie spürte, wie das Kind in ihr strampelte, und hielt das für ein sicheres Zeichen seines Wohlbefindens.
Olivia aß etwas Brot und eingelegtes Fleisch, trank ein wenig Wasser und sank in einen friedlichen Schlaf, wenn sie auch immer noch die Schaukelbewegungen des Schiffes zu spüren vermeinte, die sie so lange hatte ertragen müssen.
In dieser Nacht fand der Frieden ein jähes Ende. Mit fürchterlicher Wucht brach der Sturm, der sich über dem Indischen Ozean zusammengebraut hatte, über das Land herein. Um die zu Tode erschreckte Olivia peitschten Wind und Regengüsse. Himmel und Erde schienen im Krieg zu liegen. Das Lager wurde in Fetzen gerissen, Kisten und Körbe wurden umgeworfen und den Strand hinuntergeweht, das Feuer verlosch in Sekunden. Olivia wich in den dichten Busch zurück, sie stolperte und rutschte und suchte im Licht der Blitze ihren Weg. An einen Baum geklammert, betete sie, daß sie diese Nacht überstehen möge. Sie betete auch für ihren Mann, betete, er möge die Stadt erreicht haben, bevor dieser Alptraum begann.
In der Ruhe des folgenden Morgens kehrte Olivia zu ihrem Unterschlupf zurück. Der Strand war mit Trümmern übersät, ebenso ihr kleines Lager. Sie machte sich an die Arbeit und baute alles, so gut es ging, wieder auf. Sie band die Überreste des Segeltuchs wieder fest, richtete einen durchweichten Korb auf und breitete ihre Kleidungsstücke zum Trocknen über die Büsche. Proviant und Wasser hatten nicht gelitten, aber die Feuerstelle war naß, und die kleine Dose mit Streichhölzern schien verschwunden. Während Olivia so hantierte, hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie konnte aber kein verräterisches Geräusch, keine Bewegung ausmachen. Vorsorglich hielt sie den Revolver griffbereit.
Mittags ruhte sie. Dann beschloß sie, einen Spaziergang am Strand zu machen, um zu sehen, was der Sturm angeschwemmt hatte. Sie wanderte nach Norden, entgegengesetzt zu ihrem letzten Erkundungsgang. Bald kam sie an eine kleine Landzunge. Schwerfällig kletterte sie über die Klippen und erstarrte bei dem Anblick, der sich ihr bot. So weit das Auge reichte, war der Strand mit zerborstenem Holz, persönlichem Hab und Gut sowie nautischen Geräten übersät. Es fröstelte sie bei dem Gedanken, daß diese Sachen Treibgut eines Schiffsbruchs sein mußten, höchstwahrscheinlich der
Lady Charlotte
, die sie gerade erst verlassen hatten.
Olivia wandte sich schaudernd ab. Sie konnte sich nicht überwinden, die Überreste genauer zu untersuchen. Dieses geheimnisvolle Land und die Macht seiner Elemente gaben ihr das Gefühl, verwundbar und nichtig zu sein. Sie befand, diesem Land sei nicht zu trauen, da sich seine Schönheit so unberechenbar und erbarmungslos in Zerstörung verwandeln konnte.
Entmutigt schleppte Olivia sich am Wasser entlang zurück. Das Gewicht des Kindes in ihrem Leib zog schwer an ihr. Sie entdeckte hübsche Muscheln, doch es machte ihr zuviel Mühe, sich zu bücken.
Als ›ihr‹ Stückchen Strand in Sichtweite kam, blickte sie auf. Etwas ließ sie anhalten und genauer hinsehen. Ihr wurde schwindelig, und sie merkte, wie ihre Beine nachgaben. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren eingetreten – in ihrem Lager bewegten sich die Gestalten von nackten, schwarzen Männern. Auf den ersten Blick wirkten sie zierlich, diese Gestalten mit ihrem dichten schwarzem Haar. Offenbar waren sie sehr neugierig, sie wühlten in ihren Sachen herum, stießen mit ihren Speeren, stocherten und hackten wie ein Schwarm neugieriger Vögel. Dieser Übergriff auf ihre kleine Zuflucht in der Wildnis stellte für Olivia eine unverzeihliche Schändung dar.
Mit einem erbosten Schrei und ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, stürmte sie los. Dabei brüllte sie: »Weg mit euch! Weg mit euch!«
Die Schwarzen standen still. Entgeistert blickten sie in die Richtung, aus der das ferne Protestgeschrei kam. Für sie sah es aus, als hüpfte da ein fetter Vogel, der watschelnd, kreischend und flügelschlagend versuchte, die besten Jäger und Krieger ihres Stammes mit seinem trotzigen und von vorneherein aussichtslosen Angriff herauszufordern. Als ihnen klar wurde, daß es sich hier um ein menschliches Wesen handelte, zudem noch eine schwangere Frau, wich ihre
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