Tränen des Mondes
Ist er ein naher Verwandter?« Muriel musterte sie neugierig. Das hier war lebendige Geschichte.
»Ich weiß nicht viel. Ich habe meinen Vater nie gekannt, und meine Mutter war eine ziemliche Einzelgängerin. Sie hat nicht viel über ihre Familie erzählt. Nach ihrem Tod fand ich dieses Foto, auf der Rückseite stand ›Broome‹ mit einer Jahreszahl. Da habe ich beschlossen, selber nachzuforschen und zu versuchen, die Antworten auf die Fragen zu finden, die ich meiner Mutter zu Lebzeiten nie gestellt habe«, sagte Lily mit einem Kloß im Hals.
Muriel reichte ihr einen Teller mit selbstgebackenen Plätzchen. »Seit ich hier arbeite, sind mir schon eine Menge sonderbarer Familiengeschichten untergekommen, kann ich Ihnen sagen. Mich wundert gar nichts mehr. Aus jedem Schrank fällt hier ein altes Gerippe heraus.« Sie gluckste vergnügt. »Einige Familien waren gar nicht so begeistert über die Jugendsünden ihrer Vorfahren. Broome war damals ein lockeres Pflaster.«
Lily gelang ein schwaches Lächeln. »Es ist aber schon eine große Hilfe, wenn man wenigstens ein paar Teile des Puzzles zusammenbekommt.«
Muriel stellte Lilys Kaffeebecher auf das Tablett zurück und nahm es hoch. »Ich denke, ich habe mehr für Sie als das. Vorausgesetzt, Kapitän Tyndall ist wirklich ein Verwandter.« Mit einem verschwörerischen Lächeln ging sie hinaus.
Lily stellte sich noch einmal vor das große Portrait. »Also, wer bist du?« Mit einem Mal lächelte sie den Mann an, der ihr bereits so vertraut schien. »Und was weißt du über die
›Tränen des Mondes‹
, hm?« fragte sie laut.
Hinter sich hörte sie Muriel sagen: »Ich weiß, was es bedeutet … ich habe es irgendwo in einem Bericht über das Perlenfischen gelesen.«
Lily fuhr herum. »Was,
›Tränen des Mondes‹
?«
»Ja. Es ist eine alte indische Weisheit. Sie wissen schon, Hindumythologie und so. Sie glauben … daß die Tränen des Mondes ins Meer tropfen und dann zu Perlen werden. Deswegen sagen manche Leute auch, daß Perlen Unglück bringen. Aber das hier dürfte Sie vielleicht interessieren.« Mit einem Ächzen wuchtete sie vier schwere ledergebundene Bände auf den Tisch. »Uff. Eine Menge Lesestoff. Das sind Olivias Tagebücher. Sind auch viele Fotos dabei. Ich kann Ihnen die Bücher nicht mitgeben, aber kommen Sie, sooft sie wollen, und lesen Sie darin. Wußten Sie, daß das gesamte Mobiliar hier aus Tyndalls Haus stammt?« Sie deutete auf einen abgewetzten Lehnstuhl mit hoher Rückenlehne. »Ich sehe ihn genau vor mir, wie er in diesem Sessel sitzt, einen Gin Tonic in der Hand.« Sie lächelte verschmitzt bei dem Gedanken.
Lily konnte nur mit Mühe folgen. »Wer war Olivia? Seine Frau?«
»Ach, das ist eine lange, verwickelte Geschichte. Fangen Sie am Anfang an. Machen Sie es sich bequem und rufen Sie, wenn Sie was brauchen. Ich bringe Ihnen jederzeit Kaffee. Der eine oder andere Besucher wird Sie nicht stören. Wir kriegen hier keine Busladungen von Touristen.« Sie gluckste in sich hinein und wandte sich zum Gehen. »Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen«, sagte sie mit einem warmen Lächeln.
»Vielen Dank, Muriel.« Lily mußte schlucken. Die Dinge hatten sich rasant entwickelt. Würde sie, wenn sie Kapitän Tyndalls Lebensgeschichte las, auch etwas über ihre eigene Geschichte erfahren?
Sie nahm den ersten schweren Band auf und fuhr mit der Hand darüber. Das Leder fühlte sich weich an, das Buch wirkte beinahe lebendig, als ob die Buchdeckel nur mühsam die Gestalten im Zaum hielten, die die Seiten bevölkerten. Mit einigem Herzklopfen wurde Lily bewußt, daß sie nun ihre Familiengeschichte in Händen hielt.
Sie schlug die erste Eintragung auf und blickte auf eine feine, flüssige Handschrift auf dickem, elfenbeinfarbenem Papier.
[home]
Viertes Kapitel
An der Nordwestküste der Nickol Bay, 1893
I m schwachen Licht des wässerigen Mondes rauschte der massige Schoner
Lady Charlotte
durch die kräftige Brandung. Schwer bewegte er sich über die schaumgekrönten Wogen und durch den dichten Dunst, der sich über das Wasser gelegt hatte. Dann erreichte er den Windschatten einer kleinen, tiefen Bucht. Das regelmäßige, geräuschvolle Brechen der Wellen am Riff klang wie der keuchende Atem eines Seeungeheuers.
Langsam wich die Dämmerung dem Morgenlicht. Die grauen Wolken hoben sich. Nun wurde zwischen den Ausläufern des Riffs der enge Kanal sichtbar, den das Rettungsboot behende durchpflügte. Die Mannschaft an den langen Rudern hielt
Weitere Kostenlose Bücher