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Tränen des Mondes

Tränen des Mondes

Titel: Tränen des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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noch rechtzeitig gerettet.« Dann deutete sie auf den rückwärtigen Teil des Raums, der sich zu einem kleinen Garten hin öffnete. »Da hinten sind noch zwei Ausstellungsräume, und auf der Veranda finden Sie den Bereich der allgemeinen Geschichte und einige größere Exponate. Druckkammern und so was.« Muriel verschwand in einem Kämmerchen, das als Teeküche und privates Büro diente.
    Lily sah sich zunächst im Archiv um, blätterte in Akten und Zeitungsausschnitten und betrachtete Fotos, die ein lebendiges Bild vom Leben der damaligen Zeit boten. Da gab es den japanischen Friedhof, wo so viele Taucher begraben lagen, Fotos von Chinatown mit seinen schummerigen Läden und den schmuddeligen Opiumhöhlen, den indischen Perlendoktor, der für seine Kunstfertigkeit im Behandeln wertvoller Perlen berühmt war, die Pferdebahn zum Anlegesteg, die Barackenstadt mit den am
Dampier Creek
liegenden Perlenloggern. Ein Foto aus dem Jahr 1914 zeigte die Sortierschuppen mit kleinen Bergen von Perlen davor. Es war die Ausbeute jener Saison – sechzehnhundert Tonnen, wie die Bildunterschrift besagte.
    Lily betrat den ersten Ausstellungsraum. Er gliederte sich in zwei Bereiche, der eine wurde von einem kompletten Taucheranzug eingenommen, einer Eisernen Lunge, wie man sie zur Dekompression verwendete, und einer Auswahl von Werkzeugen und Geräten, die zum Perlenfischen gebraucht wurden. Dazu ein chinesisches Rechenbrett, japanische Papierarbeiten und einige Haushaltsutensilien.
    Lily ging um einen chinesischen Wandschirm herum und stand mitten in der Nachbildung eines Wohnzimmers im edwardianischen Stil mit einer kompletten Familie aus lebensgroßen Wachsfiguren. Mit seinen schweren Möbeln sollte das Zimmer einen Eindruck von einem wohlhabenden europäischen Haushalt vermitteln. Die Dame des Hauses, im perlenbestickten Kleid mit Turnüre und einer Perlenkette um den Hals, hielt einen kleinen Jungen an der Hand. Er trug die Haare in langen Locken und steckte in einem Matrosenanzug mit Spitzenkragen. Bescheiden im Hintergrund stand eine Aborigine in Dienstbotentracht mit gestärkter weißer Schürze auf schwarzem Kleid.
    Mit ihren Stühlen und Sesseln im Kolonialstil, den kitschigen Perlmuttaschenbechern, den Kartentischchen mit Intarsienarbeiten wirkte die Einrichtung absolut lebensecht. Seltsamerweise paßten alle Möbelstücke zueinander und waren nicht in der sonst üblichen Weise wahllos zusammengestellt, was manchmal vorkam, wenn die Stücke aus verschiedenen Schenkungen oder Haushaltsauflösungen stammten.
    Lily fuhr mit der Hand über den gehäkelten Sesselschoner und widmete sich dann den Portraits, Fotos und Gemälden an den Wänden. Ihr Blick wanderte von Bild zu Bild – und stockte. Inmitten der Fotos von Perlenloggern hing das großformatige Portrait eines schneidigen Mannes in weißer Offiziersuniform – es war derselbe wie der in Georgianas Silberrahmen.
    Lily stand einige Augenblicke wie gelähmt – das riesige Bild wirkte wie von Leben erfüllt, die Augen schienen sie belustigt anzuzwinkern. Mit zitternden Knien trat Lily von dem Bild zurück. »Muriel! Kann ich Sie mal was fragen?« rief sie aufgeregt.
    »Bin schon da. Der Kaffee ist fertig.« Muriel kam mit einem Tablett herein, das sie vorsichtig auf dem Intarsientisch neben der Chaiselongue abstellte. »Was gibt's denn, meine Liebe?« Betroffen sah sie in Lilys blasses Gesicht.
    »Wer ist das?« flüsterte Lily mit bebender Stimme und deutete auf das Gemälde.
    Muriel seufzte. »Ein toller Mann, was? Das ist Kapitän John Tyndall, vermutlich der größte Perlenbaron seiner Zeit. Was für ein Mann!«
    »Was wissen Sie über ihn?«
    »Fehlt Ihnen was, Kindchen?« Muriel sah Lily besorgt an. »Wir wissen eine ganze Menge über ihn. Interessieren Sie sich dafür?«
    Lily nickte. »Ich fand sein Foto unter den Sachen meiner verstorbenen Mutter. Ich wußte nicht, wer er war.«
    »Nun setzen Sie sich erst einmal und trinken Sie Ihren Kaffee.« Sie reichte Lily einen Becher und zog sich selbst einen Stuhl heran. Während Lily hastig einen Schluck Kaffee nahm, holte Muriel aus. »Ja, wir wissen einiges über den Kapitän. Er war eine der schillerndsten Persönlichkeiten hier um die Jahrhundertwende und vor allem in den zwanziger Jahren. Sind Sie an seiner Lebensgeschichte interessiert?«
    »O ja. Ich glaube sogar, daß wir verwandt sind!« Lilys Schock wich einer wachsenden Erregung.
    »Wer hätte das gedacht. Und Ihre Eltern haben Ihnen nie von ihm erzählt?

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