Tränen des Mondes
sie dem Mann entgegen.
Er blieb stehen und starrte verblüfft auf den Revolver in ihrer Hand.
»Was ich will?« fragte er leicht amüsiert. »Madame, ich dachte, Sie seien hier diejenige, die etwas braucht. Bitte haben Sie keine Angst.« Er hob die Arme über den Kopf und simulierte Ergebung.
Olivia wurde rot, als sie merkte, daß sie den Revolver immer noch auf ihn gerichtet hielt, und ließ die Waffe sinken. Bei aller Erleichterung darüber, einen Weißen zu treffen, blieb Olivia doch mißtrauisch, und auch der Mann kam nur vorsichtig näher.
»Wie haben Sie es geschafft, an Land zu kommen, wo es doch offensichtlich keine Überlebenden gibt?« Er sah auf ihren gewölbten Leib, der vorher von den Kleidungsstücken in ihrer Hand verdeckt gewesen war, und gab sich sozusagen selbst die Antwort. »Ah, ich sehe, sie wurden wegen Ihrer Umstände bevorzugt behandelt.«
»Dem ist nicht so«, fauchte Olivia.
Die beiden schauten einander ins Gesicht. Er sprach mit unverkennbarem irischem Akzent, allerdings mit einem amerikanischen Näseln, wie ihr schien. Aber seine Ausdrucksweise war gepflegt, und Manieren hatte er auch. Sie tauschten ein flüchtiges Lächeln.
Jetzt, wo er sie näher betrachten konnte, fand er sie sehr hübsch. Er bemerkte ihre kecke Nase, ihre grünen Augen und die vollen Lippen.
»Madame, erlauben Sie mir die Frage, ob es Ihnen gut geht. Ich bin Kapitän John Tyndall. Mein Schiff liegt in der nächsten Bucht. Ich bin an Land gekommen, als ich das Wrack auf dem Riff sah.«
Bei dem Gedanken an die Mannschaft der
Lady Charlotte
und die Reisegefährten an Bord mußte Olivia schlucken. Welch ein jähes Ende hatte sie getroffen. »Hat denn keiner überlebt?« fragte sie.
»Ich fürchte, niemand, nein. Die Küste ist voller verborgener Riffe und eigentlich immer gefährlich. Im Moment ist auch noch Regenzeit, die Gefahr von Zyklonen ist jetzt besonders groß. Sind Sie allein?«
»Nein, mein Mann ist bei mir«, beeilte sich Olivia zu sagen. »Wir haben uns hier vor dem Sturm an Land setzen lassen. Wir wollen uns landeinwärts ansiedeln.«
»Also darf ich keiner schönen schiffbrüchigen Lady auf meinem Schiff eine Koje nach Broome anbieten?« fragte er mit einem charmanten Lächeln. »Aber im Ernst, dies ist unwegsames Gebiet. Sie werden doch nicht zu Fuß weiterreisen wollen? Ich muß Ihren Gatten warnen, der Weg wird sehr beschwerlich sein. Vor allem in Anbetracht Ihres Zustands. Wo steckt Ihr Mann eigentlich?«
»Nein, es ist schon in Ordnung. Vielen Dank«, sagte Olivia hastig. In Gegenwart dieses Fremden hatte sie ein unbehagliches Gefühl. »Conrad ist nach Cossack aufgebrochen, um Pferde zu holen. Wir werden hierbleiben, bis das Kind da ist und wir zu unserer Farm ziehen können.«
Der Mann wiegte zweifelnd den Kopf. »Sie haben da eine ganz schön weite Reise vor sich. Und Sie sind sehr mutig, hier draußen allein zu bleiben. Haben Sie schon Bekanntschaft mit den Eingeborenen gemacht?« fragte er. In seinen Augen glich sie einem Mädchen, das tapfer versuchte, seine Ängste zu verbergen. Allerdings schien sie Mumm in den Knochen zu haben.
»Ich habe Eingeborene gesehen. Sind sie gefährlich? In Fremantle haben wir gehört, daß vor einiger Zeit in La Grange einige Forscher im Schlaf gemeuchelt wurden.«
»Jede Geschichte hat zwei Seiten, vor allem in diesem Teil der Welt. Werte Dame, Sie werden feststellen, daß es sich bei diesem Vorfall um einen Vergeltungsschlag handelte. Zwanzig Aboriginefamilien, Frauen, Kinder und Greise, waren völlig grundlos überfallen worden. Ich schlage vor, Sie freunden sich mit den Einwohnern hier an. Ich denke, man wird Sie nicht als Gefahr oder Bedrohung empfinden.«
Es zuckte um Olivias Mundwinkel, doch sie blieb abweisend und bestand darauf, daß sie alleine zurechtkäme. Sie sah ängstlich zu dem Asiaten hinüber, der still hinter dem weißen Seefahrer stand. Ihre Blicke trafen sich kurz, und er bedachte sie mit einem Lächeln, das sie verunsicherte.
»Vielen Dank, daß Sie mir helfen wollten. Vielleicht treffen wir uns ja einmal in Broome«, sagte sie mit gezwungener Höflichkeit.
Der Fremde zog den Hut vom Kopf, verbeugte sich elegant und antwortete: »Ja, vielleicht.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stapfte davon zu der Bucht mit dem Wrack. Olivia nahm an, die Männer würden jetzt plündern, was sie schleppen konnten, und dann weitersegeln.
Wäre sie den beiden gefolgt, hätte sie jedoch gesehen, daß sie ins Buschland abbogen und dort
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