Tränen des Mondes
einen steten Kurs. Dennoch war sich Olivia Hennessy der Gefahren auf beiden Seiten des Ufers nur allzu bewußt. Sie hielt die Arme über ihrem gewölbten Bauch verschränkt und klammerte sich an ihren Schal, als könne er alleine sie retten. Conrad Hennessy warf einen Blick auf seine schwangere Frau im Heck, um sie herum war alles verstaut, was sie besaßen. Er versuchte, ihr aufmunternd zuzulächeln, doch sie blickte nur starr auf das einsame Ufer.
Die Entscheidung, schon hier an Land zu gehen, war ihnen nicht leichtgefallen. Wie Conrad Olivia erklärt hatte, hatte der Kapitän wegen der zunehmend stürmischen Winde und steigender Flut nicht wie ursprünglich beabsichtigt in Cossack anlegen können. Und da er sowieso schon Verspätung hatte, wollte der Kapitän so schnell wie möglich weiter gen Norden nach Broome. Die Fracht an Bord sollte dort nach Singapur eingeschifft werden. Sie hätten also entweder nach Broome weiterreisen und den beschwerlichen langen Weg zurück wagen können, um wie geplant südlich von Cossack ihr Land in Besitz zu nehmen. Oder aber sie gingen hier an dieser Stelle an Land, von wo sie, rein theoretisch, ihr Gut auf direktem Weg erreichen konnten. Allerdings war die Karte, die dies besagte, mehr als unvollkommen, da die Gegend noch weitgehend unerschlossenen war.
Olivia erwartete ihr erstes Kind und fühlte sich schwerfällig und unbehaglich. Auf der ganzen Fahrt von Fremantle hierher war sie seekrank gewesen, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als bald wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Conrad bat den Kapitän, sie und ein paar ihrer Sachen an Land rudern zu lassen. Er rechnete mit einem Fußmarsch von einem Tag bis nach Cossack, wo er Pferd und Wagen für die Weiterreise besorgen würde.
Dem Kapitän schien dies eine riskante Sache. Nachdem das Paar aber so überzeugt davon war, daß diese Lösung die beste sei, und er zudem dem drohenden Sturm entfliehen wollte, willigte er schließlich ein.
Endlich knirschte es unter dem Rumpf, und das Boot kam mit einem leichten Zittern zum Stehen. Zwei Männer sprangen über Bord und lenkten es auf den Kieselstrand.
Niedriges Gebüsch und dürre Bäumchen säumten die Dünen, dahinter lag dichtes Buschland. Zwei Matrosen trugen Olivia ans Ufer. Sie setzte sich auf den feuchten Sand, breitete ihren dicken Rock mitsamt der Unterröcke um sich aus und sah zu, wie Conrad den Männern half, ihre Besitztümer an Land zu bringen.
So hatte sie sich ihre Ankunft in einem neuen Land und den Beginn ihres neuen Lebens wahrlich nicht vorgestellt. Als das junge Paar von London nach Fremantle aufbrach, geschah das in der Vorstellung, ein großes Abenteuer einzugehen. Sie würden eine Dynastie gründen und mit viel Fleiß und harter Arbeit irgendwann einmal ein großes Gut ihr eigen nennen. Das Land, das sie in Besitz nehmen wollten, lag im Nordwesten des Staates Westaustralien, und zwar südlich der Küstenstadt Cossack landeinwärts. Conrad hatte die Zukunftsmöglichkeiten in der Kolonie so gründlich wie möglich erkundet, und Olivia hatte ihn dabei angespornt, war sie doch entschlossen, nach dem Tod ihres verwitweten Vaters einen neuen Start zu wagen. Der Verkauf des väterlichen Warenhauses hatte ihr genügend Kapital eingebracht. Ihr schien, daß sie und ihr Ehemann, Buchhalter von Beruf, ihre Hoffnung auf eine glückliche Zukunft in den Kolonien leichter verwirklichen konnten als daheim.
Gemeinsam hatten sie ihre Erkundigungen eingezogen, und trotz aller Ungereimtheiten oder sogar widersprüchlicher Berichte über Australien konnte nichts ihre Überzeugung erschüttern, dort ein besseres Leben zu finden. Sie investierten in landwirtschaftliches Gerät und Haushaltswaren jeglicher Art. Sie kauften außerdem alles Notwendige, um das erste Jahr zu überstehen. In Fremantle hatten sie erneut Rat gesucht, aber selbst die wildesten Geschichten über kannibalische Aborigines, Hochseeabenteurer, zwielichtige Gestalten in den kleinen Küstenstädten und über den harten, unbarmherzigen Überlebenskampf in der Wildnis konnten sie nicht abschrecken. Denn trotz all dieser Schreckensnachrichten, war man sich doch einig, daß im Nordwesten ein Vermögen zu machen sein würde.
Der Kapitän gab ihnen Segeltuch, Seile, Proviant und zwei Fässer Regenwasser mit, damit sie ein provisorisches Lager aufschlagen konnten. Dann wünschte er den beiden viel Glück und schickte die Jungvermählten an Land. Die Mannschaft und die übrigen Passagiere sahen
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