Tränen des Mondes
in einer Waschküche. Nässe kroch in alle Winkel und Kleidungsstücke. Jede Bewegung machte Mühe. Olivias Gliedmaßen waren schwer wie Blei, ihre Haut klebte, Insekten plagten sie, und das Baby war unruhig. Sie wußte, daß ihre Erschöpfung und ihre Lethargie weniger auf die Anstrengung der Geburt zurückzuführen waren als auf das extreme Klima. Mit der Feuchtigkeit, die durch ihre unbequeme Kleidung kroch, beschlich sie auch ein tiefes Gefühl der Mutlosigkeit. Umständlich legte sie das Baby an die Brust. Wo blieb Conrad? War ihm etwas passiert? Warum war er noch nicht zurück? Schon unter idealen Umständen wäre ihr die Verantwortung für das kleine, schutzbedürftige Geschöpf in ihren Armen beängstigend vorgekommen. Aber jetzt machten sie die Einsamkeit und die Abgeschnittenheit von der Zivilisation völlig hilflos. Wie sollte sie nur die nächsten Stunden überstehen? An die nächsten Tage, Monate und Jahre wagte sie erst gar nicht zu denken. Müde warf Olivia ein Stück Holz ins Feuer. Sie wußte, daß sie sich aufraffen und etwas essen mußte, um bei Kräften zu bleiben.
Olivia wiegte das Baby. Plötzlich hörte sie Stimmen. Ihre drei Helferinnen waren zurückgekehrt, im Schlepptau hatten sie ein kleines Mädchen. Schüchtern aber neugierig beäugte das Kind Olivia. Die Frauen hatten etwas zu essen für die Fremde mitgebracht. Sie stellten ihr eine kleine Holzschale hin. Dann nahm sich die ältere Frau das Baby und herzte es. Olivia verschlug es die Sprache. In einer Aufwallung von Empörung wollte sie das Baby von der fremden schwarzen Brust reißen, doch die freundliche Art der Frau und ihr gütiges Lächeln beruhigten sie. Dankbar für die Gesellschaft probierte Olivia vorsichtig die unbekannten Speisen. Das Mädchen mußte etwa zehn Jahre alt sein. Es kicherte viel und scherzte mit dem Baby. Die erste Frau löste das Baumwolltuch des Kindes und ließ es nackt an der frischen Luft strampeln. Eine andere verscheuchte die Insekten mit einem Bündel grüner Blätter.
Das Essen schmeckte Olivia. Es gab eine Art Körnerkuchen, der mit wildem Honig getränkt war, und dann noch eine fingerlange weiße, nussig schmeckende ›Zigarre‹. Ihre Ähnlichkeit mit einer großen Nacktschnecke bewog Olivia, sie nicht näher zu untersuchen. Nach dem Mahl fühlte sie sich schon viel besser. Sie lächelte alle dankbar an und leckte sich die Finger ab. Die Frauen standen auf und bedeuteten Olivia mit Gesten, fremden Worten und Gekicher, daß sie ihnen folgen sollte. Olivia zögerte. Aber diese angeblich ›primitiven‹ Frauen waren so herzlich zu ihr, daß sie ihnen einfach Vertrauen schenken mußte. Sie entrollten eine Trageschlinge, die mit Känguruhfell gefüttert war, und zogen sie ihr über den Kopf, so daß sie quer vor ihrer Brust hing. Dahinein kam das Baby, das sich zufrieden an seine Mutter schmiegte. Vom Lager aus ging es landeinwärts. Nach dem Verlust ihres besten Strohhutes band Olivia sich ihr zweitbestes Häubchen um. Das kleine Mädchen reichte ihr einen Stock, und zusammen zogen sie in den Busch.
Die Wöchnerin kam nur langsam voran, aber ihre Begleiterinnen zeigten sich geduldig. Sie ließen ihr Zeit, legten öfter eine Pause ein und pflückten hier und da wilde Beeren. Olivia war bald erschöpft. Für die Eingeborenenfrauen schien es offenbar völlig normal, gleich nach der Geburt wieder auf den Beinen zu sein. Da, wo sie her kam, sah man das ganz anders. Eine Frau bot ihr an, das Baby zu nehmen, und Olivia überließ ihr dankbar das schwere kleine Bündel.
Die Frauen schwatzten leise miteinander. Es stimmte Olivia traurig, daß sie sich nicht besser mit ihnen verständigen konnte. Trotzdem war sie für ihre Gesellschaft dankbar. Bei ihnen fühlte sie sich gut aufgehoben.
Bald kamen sie zu einem Billabong, einem stehenden Gewässer, umgeben von Pandanuspalmen und Eukalyptusbäumen. Hier ließen sich alle im Schatten nieder. An einen Baumstamm gelehnt, sah Olivia den Frauen dabei zu, wie sie im Schlamm und unter der schwimmenden Decke von großblättrigen Wasserpflanzen nach Nahrung suchten. Eine der Frauen fing eine riesengroße Wasserschlange. Mit lautem Geschrei und Gejubel brachten sie das Tier an Land und töteten es geschickt. Die Frauen bedeuteten Olivia stolz und mit vielen Gesten, daß die Schlange ein Teil ihrer nächsten Mahlzeit sein würde.
Auf dem Rückweg hielten sie immer wieder an. Einmal förderten sie mit ihren Stöcken zwei große Eier zutage, die im Sand vergraben waren.
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