Traenenengel
Zinke war. Denn wenn nicht er, wer dann? Jemand aus Telpen? Jemand, den Flora kennt? Jemand, den ich kenne?
Den ich womöglich jeden Tag sehe? Der mit mir redet, als wäre nichts geschehen? Der Mitleid heuchelt?«
Die Badtür ging auf. Frau Duve verschluckte sich am Rauch und hustete.
Eine Sekunde später stand Flora in der Küchentür. Durch den blauen Nebel tauchte sie auf wie ein Wesen aus einer anderen Welt.
Sie hatte einen dunkelblauen Kimono mit kleinen, rot-weißen Blüten als Bademantel an. Ihre Haare waren nass und glänzten tiefschwarz.
Über ihr rechtes Auge fielen ein paar Strähnen, der Rest der Haare lag wirr nach hinten.
Auf einmal sah Trixi Flora wie vor ein paar Monaten zum Fasching als Geisha verkleidet vor sich: das Gesicht vollkommen weiß
geschminkt, die Lippen ein tollkirschroter Schmollmund, die Haare mit Stäbchen hochgesteckt und in diesem Kimono. Sie hatte
damals genau hier in der Küche etwas aufgeführt, was sie für einen japanischen Tanz ausgab.
Heute tanzte sie nicht. Auch wenn die Wunden durch den Kimono verdeckt waren, auch wenn Flora auf den flüchtigen Blick normal
aussah, bemerkte Trixi sofort, dass alles anders war. Oder hatte sich nur ihre eigene Sichtweise verändert? Sobald Trixi Flora
sah, musste sie daran denken, was ihr angetan wurde. Alles andere verblasste – die letzte Woche,die letzten Monate, das letzte Jahr, all die Jahre. Ein einziger Abend, eine einzige Nacht verdrängte alle anderen Bilder.
Flora starrte Trixi an.
Trixi erhob sich halb von der Couch. »Ich ... ich wollte dich sehen.«
Karoline Duve drückte ihre Zigarette aus und stand auf. Sie streifte Flora am Arm, als sie durch die Küchentür trat. »Ich
muss telefonieren.« Dann verschwand sie im Wohnzimmer.
Flora ging langsam und geräuschlos auf Trixi zu. Als sie kurz vor der Couch war, knarrte ein Balken. Flora setzte sich neben
Trixi.
Eine Minute saßen sie einfach nur nebeneinander. Dann legte Trixi ihre Hand in Floras. Sie fühlte sich kalt und klein an.
Trixi schloss ihre Finger um die Hand und drückte sie.
Nach ein paar Sekunden erwiderte Flora den Druck.
Trixis Blick fiel auf Floras nackte Fußknöchel. Eine tiefe Schnittwunde zog sich fast bis zur Fußsohle. Trixi schlug ihre
Beine über Kreuz. Floras Fußknöchel verschwammen vor ihren Augen. »Tut es noch weh?«, fragte sie und schluckte die Tränen
hinunter.
»Wenn ich mich nicht bewege, geht's«, erwiderte Flora. »Und wenn ich nicht daran denke.«
Sie redeten beide leise, als wären sie in einem Mausoleum.
»Was sagen die Ärzte? Geht das alles wieder weg?«
»Ein paar Narben bleiben. Aber sonst nichts. Ich habe Glück gehabt.«
Glück gehabt
, wiederholte Trixi stumm im Kopf und erneut stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Kannst du schlafen?«
»Geht so. Träume viel Mist.«
Trixi nickte. »Machst du eine Therapie oder so was?«
»Wozu?«
»Macht man das nicht nach ... nach so was? Außerdem meint deine Mutter, du kannst dich an nichts erinnern. Eine Therapie kann da helfen.« Trixi hielt
noch immer Floras Hand.
»Ich will mich an nichts erinnern.« Flora zog ihre Hand weg.
»Aber irgendwie musst du ... na ja, damit umgehen. Es verarbeiten. Fertig werden. Neu anfangen. Du kannst dich nicht ewig hier verkriechen«, sagte
Trixi. Im gleichen Moment bereute sie es. Wahrscheinlich war es noch zu früh. Viel zu früh für Flora. Trixi geriet ins Stolpern,
sie lief mal wieder zu schnell.
»Ich will nicht neu anfangen. Ich will mein normales Leben zurück.« Flora sank mit dem Rücken an die Couchlehne. »Da draußen
zerreißen sich doch bestimmt schon alle das Maul über mich.« Flora sah Trixi abwartend an.
Trixi dachte an die Sprüche, die sie auf demSchulhof gehört hatte. Das geheuchelte Mitgefühl, die Spekulationen, Verdächtigungen, Beschuldigungen. »Ja. Du bist gerade
großes Thema«, sagte sie schließlich. »Aber das geht auch wieder vorbei.« Und selbst wenn, dachte Trixi. Flora würde immer
das aufgeschlitzte Mädchen vom See bleiben. Das Opfer.
»Mir reicht schon, was in der Zeitung steht«, sagte Flora und stieß ein paar der aufgestapelten Magazine von der Couch. Sie
fielen zu Boden und rutschten ein Stück über das dunkelbraune Parkett. »Und dann noch dieser Blick von der alten Garthoff
zu unserem Fenster hoch. Als wäre hier oben der reinste Sündentempel und was mir passiert ist eine gerechte Strafe Gottes.«
Die alte Garthoff wohnte unter den Duves.
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