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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Gehm
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Schleier über die Landschaft. Die Tropfen bildeten winzige Kringel auf der Wasseroberfläche, als würden sie auf Zehenspitzen
     gehen.
    Der Telpener Badesee war verlassen. Auf der Wiese, unmittelbar vor Sälzers Füßen, lag ein zerknüllter Pappbecher, daneben
     ein verwaister Kinderschuh aus Plastik. Im Schuhbett hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Darin schwamm ein toter Käfer.
     Die Wiese war zur Straße hin von großen Bäumen gesäumt. In einem der Bäume, am untersten Ast, hing ein rotbraunes Handtuch.
     Der Rand war ausgefranst, in der Mitte hatte das Handtuch einen hellen Fleck.
    Von der kleinen, grauen Pappbude, die sich Ellas Kiosk nannte, drangen durch den Nieselregen Geräusche. Das überdachte Verkaufsfenster
     war halb geöffnet. Matej Masaryk stand davor. Neben dem Fenster hing eine Fahne, auf der mit ausgeblichener, roter Schrift
     »Eis« stand. Auf der anderen Seite hing eine Zigarettenwerbung. Das Plakat wellte sich bereits. Die Wetterseite des Kiosks
     war von graugrünen Flechten bedeckt, auf dem Dach wuchs Moos.
    An einem der weißen Plastikstehtische vor dem Kiosk standen zwei Männer. Jeder hatte eine Dose in der Hand. Ihre Gesichter
     waren rot und von Bartstoppelnübersät. Zu ihren Füßen, im Schutz des Plastiktisches, standen ein großer Rucksack und ein vollgepackter, alter Einkaufstrolley.
     Die Männer redeten und gestikulierten, ließen sich vom Nieselregen nicht stören.
    Auf einer einsamen Bierbank vor Ellas Kiosk saß ein hagerer Mann mit einem Tirolerhut. Er blickte starr auf den See. Von Zeit
     zu Zeit zog er an seinem Zigarillo. Der Mann hatte den Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass nur eine gigantische, breite
     Nase zu erkennen war. Er sah nicht aus, als würde er nach Telpen gehören, fand Sälzer. Vielleicht lag es auch nur am Tirolerhut.
    Sälzer wandte sich vom Kiosk ab. Langsam schritt er durch das nasse Gras über die Wiese zum Ufer. Feiner Kies knirschte unter
     seinen Füßen, als er es erreichte. Er sah zu Boden, studierte den Kies, als würde dort die Lösung liegen. Millimeter für Millimeter
     hob er den Blick, ließ ihn über das Wasser bis zur Badeinsel schweifen. Sie war verlassen. Die nassen Holzplanken glänzten
     dunkel im Regen. Die Insel lag groß, schwer und dunkel auf dem See, Bühne eines grausamen Schauspiels.
    Sälzer fuhr ein Stich durch die Beine. Er ging ein paar Schritte zurück und ließ sich auf einen kurzen, dicken Baumstamm sinken,
     der in der Nähe des Ufers lag. Das Holz war nass, aber Sälzer spürte die Feuchtigkeit kaum, war in Gedanken woanders. Noch
     immer sah er zur Badeinsel. In seinem Kopfbraute sich etwas zusammen. Eine Vorstellung, noch weit weg und nicht zu erkennen, aber immer lauter werdend, wie ein Zug,
     der unaufhaltsam näher kam. Er kniff die Augen zusammen.
    »Sie sitzen auf Kunst.«
    »Was?« Sälzer blickte auf und in das Gesicht seines Praktikanten.
    »Tilla, die Holzschildkröte vom Telpener See«, sagte Matej Masaryk und deutete mit dem Kinn auf den Baumstamm, auf dem Sälzer
     saß. »Von Topo Panell. Stadtbekannt. Noch nie gehört?«
    Sälzer schob die Knie auseinander und musterte einen Moment die Kunst unter sich.
    »Also«, begann Masaryk. »Elfrida Gabriele Seitenstecher, kurz Ella, hat gar nichts gesehen. Gehört hat sie auch nichts. Sie
     hat ihren Kiosk wie jeden Abend gegen zwanzig Uhr zugeschlossen und ist mit Freddy nach Hause gefahren.«
    Sälzer nickte, starrte dabei wieder auf den See. Er hörte Masaryk, aber seine eigenen Gedanken waren lauter. Die Vorstellung
     wurde immer deutlicher, ergab ein klares Bild. Einen Plan.
    »Freddy ist   ...«
    »Später«, sagte Sälzer, stand auf, zog sich die Jacke aus und drückte sie seinem jungen Kollegen in die Hand. Er streifte
     sich das dunkelblaue T-Shirt über den Kopf, warf es auf Tilla, zog gleichzeitig im Stehen die Schuhe aus ohne die Schnürsenkel aufzumachen, öffnete seinen
     Gürtel und zogdie Hose aus, wobei er sich gleich der Strümpfe entledigte.
    Masaryk stand mit der Jacke seines Chefs in der Hand da und musterte ihn ungläubig. Erst als Sälzer nur noch mit Unterhose
     bekleidet das Kiesufer betrat, sich noch einmal umdrehte und ihm sein Basecap gab, fand er die Sprache wieder. »Sie gehen
     jetzt da rein? Was soll denn das bringen? Die Spusi war doch schon da. Die waren auch auf der Badeinsel.«
    »Weiß ich«, erwiderte Sälzer und ging in den See. Die Kieselsteine drückten angenehm an den Fußsohlen. Das Wasser hatte die
    

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