Traenenengel
zu schwach, um mich aufzurichten.«
»War das der Täter?«
»Weiß nicht. Kurz danach kam ein Mann auf die Badeinsel. Als er mich sah, meinen Körper, da stand so viel Schrecken in seinen
Augen ...«
»Der Rentner, der die Rettung gerufen hat.«
Flora nickte. »Ich hatte Angst, an mir hinabzusehen.«
Trixi sah auf Floras Arme, die samt Händen im Kimono steckten. Flora ließ niemanden ihre Wunden sehen. Hatte sie Angst, dass
sich andere vor ihr ekelten? Ekelte sie sich selbst?
Trixi hob die Hand, wollte über Floras Arme fahren. Sie hielt in der Bewegung inne, wusste nicht, wie sie Flora berühren sollte.
Flora bemerkte Trixis Geste. Einen Augenblick rührte sich keiner, dann legte Flora den Kopf auf Trixis Schulter. »Schon gut.
Es ist vorbei.«
Ja, dachte Trixi, vorbei, aber nicht vergessen.
»Ich lebe noch. Ich kann mich bewegen.« Flora hob einen Arm wie eine Marionette. »Ich kann quatschen. Wahrscheinlich kann
ich sogar lachen. Hab es nur noch nicht probiert. Also behandel mich nicht, als hätte ich eine tödliche, ansteckende Krankheit.«
»Will ich ja gar nicht. Ich kann das alles nur irgendwie nicht begreifen. Diese eine Nacht ... Wärst du nicht an den See gefahren, wärst du nicht alleine gewesen ...«
»Eben. Es war nur eine Nacht. Von der lass ich mir nicht mein ganzes Leben versauen, oder?« Floras Stimme zitterte.
Trixi nickte mechanisch. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass Flora es zumindest versuchte.
Aus dem Wohnzimmer kam ein kurzes, lautes Lachen.
Trixi schielte fragend zu Flora, die den Kopf noch immer auf ihrer Schulter hatte.
»Sie telefoniert mit Götz. Garantiert. Normalerweise lacht sie das ganze Telefonat über. Sie liebt ihn, weil er sie zum Lachen
bringt.« Flora schnaufte und richtete sich auf. »Was für ein abgedroschener Blödsinn.«
»Wenn er deine Mutter nach der ganzen Sache zum Lachen bringt, ist er aber echt gut«, meinte Trixi.
»Pietätlos heißt das, nicht gut.«
Trixi musterte Flora. Eine Sekunde lang sah sie aus wie früher. Wie vor der Nacht.
»Was macht eigentlich Andro? War der schon hier?«
Flora strich sich eine nasse Haarsträhne aus der Stirn und nickte.
»Und, was hat er gesagt?«
»Dass er Angst um mich hatte.« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Und dass er für mich da ist.«
»Das bin ich auch«, sagte Trixi. »Das weiß du, oder?«
Flora nickte langsam.
6. Kapitel
Zeugenvernehmung von Constanze Kempowski
Zur Person
Name: Kempowski
Vorname: Constanze
Geb. Datum: 30. 11. 80
Beruf: Laborantin
Wohnort: Telpen
Adresse: Michael-Ende-Weg 52
Vernommen im Fall der gefährlichen Körperverletzung zum Nachteil von Flora Duve. (Vernehmung durchgeführt von Polizeianwärter
Masaryk)
Zur Sache
Frau Kempowski gibt an, am Abend des 2. Juli einen Spaziergang mit ihrem Baby im Kinderwagen unternommen zu haben. Da ihre vier Monate alte Tochter nicht schlafen
wollte, ging Frau Kempowski mit dem Kinderwagen ein Stück auf dem Radweg, der vom südlichen Telpener Stadtrand zum Telpener
Badesee führt und andas Grundstück der Kempowskis anschließt. Nachdem ihre Tochter eingeschlafen war, kehrte Frau Kempowski zu ihrem Reihenhaus
im Michael-Ende-Weg zurück. Sie war gerade vom Radweg auf den Zugang zu ihrem Grundstück gebogen, als sie einen Radfahrer
bemerkte. Er kam aus südlicher Richtung, also aus Richtung des Telpener Badesees. Frau Kempowski beachtete ihn nicht weiter,
da sie schnell zurück ins Haus wollte. Sie meint sich zu erinnern, dass der Radfahrer sehr zügig fuhr, groß und schlank und
vermutlich dunkelhaarig war. Laut Frau Kempowski könnte es ein junger Mann oder aber ein junges, burschikoses Mädchen gewesen
sein. Frau Kempowski erinnert sich weder an die Kleidung noch an das Fahrrad, da sie zum einen nicht darauf achtete und es
zum anderen bereits dunkel war. Frau Kempowski gibt des Weiteren an, dass es kurz nach 21 Uhr gewesen sein muss, da sie, als sie zurück in die Wohnung kam, den Wetterbericht am Ende der 2 1-Uhr -Nachrichten im Radio hörte.
Seit sie aus dem Auto ausgestiegen waren, regnete es. Es war ein grauer Nieselregen, leise, beharrlich und ermüdend. Eine
Einladung für einen Sonntagnachmittag vor dem Fernseher.
Leif Sälzer zog sich den Schirm seines Basecaps tiefer ins Gesicht. Er steckte die schweren Hände indie Jackentaschen und ließ den Blick über die Liegewiese und den See schweifen. Der Nieselregen legte einen feinen, weißgrauen
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