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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Gehm
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gleiche Temperatur wie der Nieselregen. Ohne sich umzudrehen, hob Sälzer eine Hand. »Bis gleich.« Dann hechtete er ins Wasser.
    Er schloss die Augen beim Tauchen, schwamm ein paar Züge unter Wasser. Normalerweise genoss er es, in diese schwebende Welt,
     aus der alles Leben entsprang, einzudringen. Wasser faszinierte und beängstigte ihn zugleich. Er nahm die Geräusche, die Farben
     und Bewegungen unter Wasser gebannt auf.
    Doch heute achtete er nicht darauf. Heute stellte er sich vor, er wäre eine andere Person. In Gedanken zog er eine Last mit
     sich. Ein Opfer, das sich nicht wehrte. Das sich nicht mehr wehren konnte. Es war schwer, mit einem anderen Menschen zu schwimmen,
     selbst wenn er klein und zierlich war. Er musste ein guter Schwimmer sein. Kräftig. Entschlossen. Er wollte nicht, dass sein
     Opfer ertrinkt.Er wollte, dass es leidet. Er wollte, dass es andere sehen. Er war besessen von einer Idee.
    Als Sälzer die Badeinsel erreichte, war er vollkommen außer Atem. Obwohl es vom Ufer höchstens dreißig Meter waren. Er hielt
     kurz inne, bevor er sich am Metallgeländer hochzog und an der kleinen Treppe auf die Badeinsel kletterte. Er stellte sich
     an den Rand der Badeinsel, verharrte einen Moment, dann ging er einmal langsam um die Insel herum. Wasser tropfte von seinen
     halblangen Haaren, lief ihm über das Gesicht, sammelte sich an der Nasenspitze und am Kinn in Tropfen. Er spürte den Regen
     nicht mehr.
    Langsam hockte er sich hin, sah auf die Holzplanken. Er blinzelte, um das Wasser und alle unbrauchbaren Gedanken zu vertreiben.
     Seine rechte Hand ballte sich zur Faust zusammen, wie um einen Messergriff. Er spannte die Muskeln an. Sein Arm zuckte. Einmal,
     zweimal, dreimal.
    STICH STICH STICH
    Sälzer presste die Lippen aufeinander, bis sie nur noch einen harten Strich bildeten.
    STICH STICH STICH
    Dann schloss er die Augen, atmete heftig. Zögerlich drehte er sich zum See, streckte langsam die Hand über das Wasser aus,
     öffnete die Faust. Er machte die Augen auf, sah auf die Wasseroberfläche.
    Nach ein paar Sekunden stand er auf, trat an den Rand, als wolle er ins Wasser springen. Doch er richtete seinen Blick wieder
     auf die Holzplankenund legte sich in die Mitte der Insel. Er streckte die Arme und Beine von sich und starrte in den grauen Himmel. Sälzer spürte
     die nasskalten, harten Holzplanken unter sich. Vor allem am Kopf und an den Schultern. Hatte sie das auch gespürt? Hatte sie
     in den Himmel gesehen?
    Sälzer schloss die Augen, sah die Wunden auf einmal deutlich vor sich. Die Schmerzen überkamen ihn sofort. Ohne Vorwarnung.
     Mit ganzer Macht. Er rollte sich zusammen, lag einen Moment wie ein Embryo da, die Beine umschlungen.
    »Alles in Ordnung?«, kam ein Ruf vom Ufer, halb verschluckt vom Nieselregen.
    Sälzer richtete sich nach ein paar Sekunden auf, stellte sich in die Mitte der Badeinsel. Er ließ den Blick rund um den See
     schweifen. Er sah das Badeufer mit dem Kiosk, die Wiese und seinen etwas ratlos wirkenden, jungen Streifenpartner. Südwestlich
     der Liegewiese säumten hohe Gräser das Ufer, die schließlich in Schilf übergingen. Ganz im Westen war der See von dichtem
     Schilf und einigen Bäumen umgeben. Das Schilf reichte weit ins Wasser hinein. Sälzer meinte, im Nieselschleier ein paar Enten
     zu erkennen.
    Im Norden verlief ein kleiner Feldweg ein gutes Stück direkt am See entlang. Soweit Sälzer wusste, führte er in westlicher
     Richtung nach Kraldorf. Im Osten mündete der Feldweg in die Bundesstraße. Zuvor, in der Nähe von Ellas Kiosk, stieß er auf
     einenbetonierten Radweg, der vom Badesee ins Telpener Stadtzentrum führte.
    Sälzers Blick kam wieder am Badeufer an. Er winkte seinem Kollegen kurz zu, dann sprang er von der Badeinsel und schwamm zurück.
    Masaryk hielt ihm das rotbraune Handtuch mit dem hellen Fleck entgegen, das im Baum gehangen hatte. »Ist zwar auch nass, aber
     besser als nichts«, meinte er.
    Sälzer nahm das Handtuch, rubbelte sich damit über den Kopf, dann legte er es sich um die Schultern. Der Nieselregen war stärker
     geworden, aber immerhin war es nicht kalt.
    »Was sollte das eben?«, fragte Masaryk.
    »Ich hatte so eine Idee. Dachte, ich könnte etwas   ... na ja, erspüren.«
    »Und?«
    Sälzer schüttelte den Kopf. »Nichts Konkretes. Oder alles, was wir sowieso schon wissen.«
    »Aha.« Masaryk zog eine Augenbraue hoch.
    Sälzer zuckte mit den schweren Schultern. »Probieren kann man es ja wohl mal.« Er griff

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