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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Gehm
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Masaryk leise fort.
    »Schnitt für Schnitt, Stich für Stich. Er lässt sich Zeit. Er genießt ihre Schmerzen. Bekommt gar nicht genug.« Sälzer redete
     wie in Trance. »Je mehr sie leidet, desto mächtiger fühlt er sich.«
    »Aber er tötet sie nicht.«
    »Nein. Er ist ein barmherziger Vollstrecker. Er foltert sie nur.«
    Masaryk wandte den Blick vom See ab und drehte sich zu Sälzer um. »Und dann verschwindet er, hinterlässt keine Spuren. Keine
     Tatwaffe. Keine Fingerabdrücke. Nichts. Als wäre er im See versunken.«
    Sälzer nickte langsam. »Flora liegt vermutlich mehrere Stunden alleine auf der Insel, bis Jürgen Ludwig sie gegen 3   Uhr morgens findet. Sie leidet an Unterkühlung, steht unter Schock. Ludwig ruft die Rettung.«
    »Die Tat muss demzufolge irgendwann zwischen 22   Uhr und3   Uhr morgens geschehen sein.« Masaryk sah auf die Rückseite des Zettels, den er noch immer in der Hand hielt. »Silvio Zinkes
     Abwesenheit wurde in der JVA Telpen beim Kontrollrundgang gegen 23   Uhr bemerkt. Er hätte es locker innerhalb der Tatzeit zum See geschafft.«
    Sälzer fuhr sich mit der Hand übers Kinn. »DerSee liegt an der Bundesstraße. Das westliche Ufer ist abgeschnitten von jeder Zufahrt. Viel Schilf. Keine Menschen. Ein gutes
     Versteck. Aber«, Sälzer blickte auf, »es gibt nirgendwo Spuren. Keine einzige noch so kleine.«
    »Er hat sich ja auch nicht hier versteckt. Flora Duve kam ihm dazwischen.« Masaryk räusperte sich. Seine Wangen wurden direkt
     unterhalb der Augen rot. »Sozusagen.«
    Sälzer stand auf. Das Handtuch, das er sich um die Hüften gewickelt hatte, fiel zu Boden. »Wir müssen diesen Radfahrer finden,
     der kurz nach neun vom See in die Stadt gefahren ist. Vielleicht hat ihn noch jemand gesehen.«
    »Wir haben schon die ganze Reihenhaussiedlung abgeklappert.«
    »Dann klappert ihr eben noch mal. Wenn er vom See kam, muss er Flora gesehen haben. Er kann ein wichtiger Zeuge sein.« Sälzer
     griff nach seiner Hose und zog sie über.
    Masaryk blähte kurz die Backen auf. Aber er nickte.
    »Und was ist mit dem Feldweg? Keine Anwohner?« Sälzer zog sich Strümpfe und Schuhe an.
    »Es gibt ein paar Trampelpfade, die zu Privatgrundstücken führen. Da stehen nur vereinzelt Häuser. Mach ich heute Nachmittag.«
    Sälzer richtete sich auf. »Gut.« Auf einmal hielt er in der Bewegung inne, sah auf einen unbestimmtenPunkt im Nieselregen, kratzte sich am Hinterkopf, sodass ihm sein Basecap tiefer ins Gesicht rutschte. »Es muss kurz nach
     meiner Versetzung gewesen sein, ungefähr vor einem Jahr. Da gab es einen ähnlichen Fall.«
    »Hier in Telpen? Auf der Badeinsel?«
    »Das meine ich nicht. Es war auch ein Mädchen. Ich glaube, sie war noch etwas jünger. Wurde mehrfach misshandelt. Konnte sich
     genau wie Flora Duve an nichts erinnern. Keine Zeugen. Wir tappten vollkommen im Dunkeln.«
    Masaryk sah den Polizeihauptmeister abwartend an.
    Sälzer starrte aufs gegenüberliegende Ufer. Er meinte, dort durch den Nieselregen eine Bewegung wahrzunehmen. Eine hochgewachsene
     Gestalt, den Körper wie ein Fragezeichen verbogen, mit einem großen schwarzen Hut, wie ihn Fischer trugen. Doch gerade, als
     er seinen Kollegen darauf aufmerksam machen wollte, war die Gestalt verschwunden. Das gegenüberliegende Ufer lag verlassen
     im Regen. Sälzer fragte sich, ob alles nur ein Trugbild war.
    »Und?«, fragte Masaryk. »Gibt es ein Happy End?«
    Sälzer sah seinen Praktikanten fragend an.
    »Bei der Geschichte vor einem Jahr.«
    Sälzer zog sich die Jacke über. »Wie man's nimmt.«
    Auf einmal knirschte es hinter ihnen. Sälzer und Masaryk fuhren herum.
    Die beiden Stammgäste von Ellas Kiosk standen auf der Liegewiese. Einer war auf den zerknüllten Pappbecher getreten. Er hatte
     wirre, rotblonde Locken und die wässrigen, hellen Augen weit aufgerissen. Er stieß ihnen seinen vernarbten Zeigefinger entgegen.
     »Ihr müsst den Abschaum finden. Sonst sind wir als Nächstes dran.« Seine Stimme klang verraucht und zittrig.
    »Der ist noch hier, in Telpen«, sagte der andere. Er hatte eine überraschend hohe und weiche Stimme, die nicht so recht zu
     seinem schwarzgrauen Stoppelbart passte.
    »Wie kommen Sie darauf?«, fragte Masaryk.
    »Ich bin seit über zehn Jahren auf der Straße zu Hause«, sagte der Mann mit der hohen Stimme. »Ich merke, dass jemand in meinem
     Zuhause ist. Jemand, der da nicht hingehört. Der zu allem fähig ist, wenn er nicht aufgehalten wird. Und wir sind dann

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