Traenenengel
unten funktionierten nicht, deshalb stand die Haustür immer offen. Doch viel weiter,
ins Haus hinein, würde Trixi es nicht schaffen. Dazu war der Verfolger schon zu dicht hinter ihr. Gegenüber von Floras Haus
war ein Kindergarten, in dem sich um diese Uhrzeit kein Mensch mehr befand. Kein Mensch, der sie sehen oder hören konnte.
Auch Autos verirrten sich selten in die Einbahnstraße.
Trixi war nur noch vier Schritte vom Abzweig zur Griegstraße entfernt. Mehr einer Eingebung folgend als wohlüberlegt blieb
sie plötzlich stehen. Sie kniete sich mit dem rechten Bein aufs Pflaster und band ihren linken Schnürsenkel. Was auch immer
jetzt passierte – Trixi würde so laut schreien, dass es den Anwohnern in den Häusern rechts und links nicht entgehen konnte.
Sie hörte die Schritte hinter sich.
Tep
–
tep
–
tep
–
tep .
Immer näher. Trixi ballte die Hände mit dem Schnürsenkel zu Fäusten zusammen. Ihre Fingernägel schnitten in die Handflächen.
Sie zog die Schultern hoch, wollte sich vor der Angst schützen, die wie Hagelkörner auf sie niederprasselte.
Auf einmal verstummten die Schritte. Der Mann war stehen geblieben. Trixis Blick wanderte langsam nach rechts. Neben ihr standen
zwei schwere, schwarze Schnürschuhe. Die Spitzen glänzten im Schein der Straßenlaterne. Schwarze Hosenbeine fielen bis über
die Knöchel. Trixi wagte es nicht, den Blick zu heben.
»Doppelschleife«, kam es von oben.
Die Stimme klang unerwartet jung. Trixi sah auf. Das Licht der Straßenlaterne spiegelte sich in zwei Brillengläsern. Die Augen
dahinter waren kaum zu erkennen. Trotzdem hatte Trixi das Gefühl, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
»Sagt man doch immer. Doppelschleife hält besser.« Der Typ mit der Kapuze deutete mit dem Kinn auf Trixis linken Schuh. Sie
hielt den Schnürsenkel noch immer fest umklammert. Erst jetzt lösten sich die Fäuste.
Trixi richtete sich auf, wobei sie den Kapuzenträger nicht aus den Augen ließ.
»Sorry, das war wohl der ranzigste Spruch aller Zeiten, das mit der Doppelschleife«, sagte er. »Willst du zu Flora?«
Trixi sah ihn fragend an.
»Wir sind uns schon mal kurz im Hausflur begegnet. Ist 'n paar Wochen her. Hagen. Der Sohn von Götz.« Hagen strich sich mit
der flachen Hand die Kapuze vom Kopf und nickte Trixi zu. Er hatte kurze, glatte, hellbraune Haare, die ordentlich zum Seitenscheitel
gekämmt waren und zusammen mit der Kapuze und den Schnürstiefeln ein eigentümliches Bild ergaben.
»Ja, ich glaub, ich erinnere mich«, sagte Trixi, nachdem sie ihre Atmung wieder halbwegs unter Kontrolle hatte. Sie ließ die
Schultern locker und schloss für zwei Sekunden die Augen.
Paranoid , vollkommen paranoid.
Dann wandte sie sich wieder Hagen zu. »Kann es sein, dass du damals einen Anzug angehabt hast?«
»Praktikumskostüm.«
Trixi nickte. Sie freute sich, Hagen zu sehen – aber nur, weil er kein entflohener Schwerverbrecher und Floras aktueller Stiefbruder
war. Sie wusste nicht so recht, worüber sie sich mit dem Sohn des aktuellen Freundes von Floras Mutter unterhalten sollte.
Außerdem war ihr nach der eingebildeten Verfolgungsjagd nicht nach Small Talk.
»Hast du gar kein Problem damit, nachts hier so alleine rumzulaufen?«, fragte Hagen, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Oder
stehst du da drauf?«
»Worauf?«
»Horror. 'n kleiner Kick. So was. Gibt Leute, diebrauchen das.« Hagen musterte Trixi aus kleinen, wachen Augen hinter den Brillengläsern.
»Also ich nicht. Du?«
»'nen guten Horrorstreifen zieh ich mir schon gerne rein. Aber eher so Psychosachen. Blutgemetzel lassen mich kalt.«
»Tolles Thema«, fand Trixi und ging langsam weiter. Hagen ging neben ihr her. Keiner sagte etwas, bis sie in die Edvard-Grieg-Straße
bogen.
»Das ist doch alles die totale Heuchelei«, begann Hagen. Seine Stimme klang auf einmal fester und tiefer. »Alle Leute in Telpen
tun, als würden sie mit Flora fühlen, ihr helfen wollen. Dabei sind sie doch nur froh, dass es nicht ihr eigenes Kind war,
das aufgeschlitzt wurde.«
»Kann man ihnen ja wohl kaum verdenken«, erwiderte Trixi.
»Soll ich dir was sagen? Sie ergötzen sich insgeheim an Floras Leid. So, wie man sich früher am Tod eines Gladiators ergötzt
hat oder an einer Hexenverbrennung, so wie die Menschen heute Berichte über Flugzeugabstürze, Lawinenunfälle oder das tragische
Ende von vernachlässigten Kindern verschlingen.« Hagen hatte die Augen weit
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