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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Gehm
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war«, sagte Flora.
    Sälzer sah sie abwartend an.
    »Du kannst dich erinnern?«, fragte Trixi.
    »Nicht genau«, begann Flora langsam. »Es   ... es sind nur Fetzen, Bilder wie schnelle Filmschnitte, und selbst die sind wie im Nebel.« Flora hielt kurz inne, dann fuhr
     sie mit halb geschlossenen Augen fort. »Ich weiß noch, wie ich am See saß, der Kies unter mir hart und kalt. Als ich aufstand,
     spürte ich, dass da jemand war, ganz in meiner Nähe. Als bräuchte er nur den Finger auszustrecken, um mich zu berühren. Ich
     sehe ihn, für Sekunden, kann sein Gesicht nicht erkennen, aber er ist größer als ich, mindestens einen Kopf. Ich sehe einen
     kräftigen Nacken, breite Schultern, dann verschwimmt alles.«Flora öffnete die Augen, ihr Atem ging schnell, sie stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab.
    Sälzer betrachtete sie einen Moment nachdenklich. »Noch etwas anderes? Haarfarbe? Kleidung? Geruch? Hat er etwas gesagt?«
    Flora schüttelte den Kopf.
    Sälzer sah zu Patrick. Seine Arme waren muskulös, die Schultern waren nicht schmal, aber auch nicht auffallend breit. Vor
     allem aber war er klein. Vielleicht gerade einmal genauso groß wie Flora.
    »Deine Erinnerung eben«, wandte sich Sälzer wieder an Flora. »Du weißt, dass du Patrick mit dieser Aussage entlastest?«
    Flora sah Sälzer ausdruckslos an. »Er war es nicht.«
    »Wusstest du das die ganze Zeit schon? Dass der Täter größer ist als du und breite Schultern hat?«, fragte Masaryk.
    Flora schüttelte abermals den Kopf. »Ich sag doch, es sind kurze Bildfetzen, die auftauchen. Es ist mir eben eingefallen,
     als Patrick vom Abend am See erzählt hat.«
    Sälzer warf seinem Praktikanten einen Blick zu. Natürlich hatte er recht – hätte Flora sich früher erinnert, hätten sie sich
     einige Ermittlungsarbeit sparen können. Sälzer fragte sich aber vor allem eins: Wie viele dieser kurzen Bildfetzen würden
     mit der Zeit noch auftauchen? So viele, dass sich ein ganzes Bild ergab? Und selbst, wenn sie nicht auftauchensollten: Konnte jemand Flora dabei helfen, sie zu finden?
    »Kann ich jetzt gehen?«, unterbrach Patrick Sälzers Gedanken.
    »Ja, aber mit uns«, erwiderte Sälzer. »Wir klären auf der Polizeiwache noch ein paar Detailfragen und nehmen ein Protokoll
     auf.«
    Patrick schnaufte. »Ich wusste schon, warum ich mich aus der ganzen Sache raushalten wollte«, murrte er leise.
    Masaryk ging mit Patrick an Sälzer vorbei.
    Sälzer blieb einen Augenblick unentschlossen auf dem Treppenabsatz stehen. Er nickte Beatrix kurz zu, warf einen flüchtigen
     Blick auf den jungen Mann hinter ihr, dann wandte er sich an Flora: »Wir melden uns bald. Und solltest du dich wieder an irgendetwas
     erinnern, auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist, sag sofort Bescheid, hörst du?«
    Flora nickte.
    Sälzer musterte sie einen Moment, dann schloss er sich den anderen an. Er war schon fast den ersten Treppenabsatz nach unten
     gegangen, als er sich noch einmal zu Flora umdrehte. »Weißt du, es gibt Leute, deren Job ist es, jemandem wie dir zu helfen,
     sich zu erinnern.«
    Im Treppenhauslicht wirkte Floras Gesicht wie das einer Marmorskulptur.
    Als Sälzer klar wurde, dass er vergebens auf eine Reaktion wartete, tippte er sich kurz an den Schirmseines Basecaps und folgte seinem Streifenpartner und Patrick Felber nach unten.
    Im Parterre stand eine Wohnungstür auf. Nur einen kleinen Spalt. Dahinter meinte Sälzer graue Haare und gierige Augen zu sehen.
     Er sagte laut »Guten Abend«, woraufhin die Tür sofort zuschlug, und verließ das Wohnhaus.

12.   Kapitel
    Sie liegt auf dem Boden. Spürt das Parkett unter sich. Harter Halt.
    Einen Moment hat sich alles gedreht. Die Treppe, das Geländer, das Flurlicht. Die Gesichter verschwammen, die Welt war verrutscht.
     Sein Gesicht. Blass, versunkene Rosinenaugen. Sagen die Wahrheit, die sie kennt. War nur zur falschen Zeit am falschen Ort.
     War immer da. All die Jahre. Es macht sie traurig. Aber das reicht für nichts.
    Sie fährt mit den Fingernägeln die Rillen im Holz nach. Versucht, sich zu erinnern. Die Nacht am See. Das gegenüberliegende
     Ufer. Schilf. Verborgener Steg. Ein Augenpaar. Ein stummer Zeuge. Doch nicht der Tat.
    Wäre er länger geblieben.
    Hätte er es gesehen.
    Hätte er etwas getan?
    Hätte er sie gerettet?
    Oder wäre er davongelaufen, hätte die Augen verschlossen, alles ausgeblendet, wie sie? Sie fährt sich mit flachen Händen über
     die Oberschenkel. Er hätte den Anblick

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