Traenenengel
See glauben?
Trixi zuckte kurz zusammen, als sie auf einem der unbeleuchteten Nebenwege des Parks eine Bewegung wahrnahm. Sie blieb stehen,
starrte in die Dunkelheit. Einen Moment zögerte sie, dann ging sie schnell weiter. Rechts und links vom Hauptweg, der alle
paar Meter von einer klobigen Laterne beleuchtet wurde, breitete sich Finsternis aus. Die Bäume sahen aus wie schwarze, stumme
Riesen und bildeten eine beklemmende Kulisse.
Auf einmal störte Trixi die Musik. Sie fühlte sich eingeschränkt, gefährdet. Sie schaltete den MP 3-Player aus, behielt nur die Hörer in den Ohren. Die Welt um sie herum kam ihr auf einmal unsagbar still vor. Erst nach und nach
nahm sie die Geräusche der Nacht auf. Der Kies knirschte unter ihren Turnschuhen. Ein leichter Wind fuhr in die Baumkronen,
ließ die Blätter rauschen. Um die Parklaternen flogen Motten, Fliegen und andere Insekten. Wenn Trixi dicht an ihnen vorbeiging,
hörte sie ihr Summen. Manche zischten wie Wassertropfen in einer heißen Pfanne. In einer der Parklaternen hatte sich eine
fette Fliege verfangen und flog immer wieder von innen gegen das Glas. Trixis linkes Augenlid zuckte jedes Mal.
Eine Minute später hatte Trixi das Ende des Hauptweges fast erreicht. Sie sah bereits die kleineBrücke, die über die Telm und zur Ruine der Trinitatiskirche führte, die sich schwarz vom nachtblauen Himmel abhob. Auf einmal
raschelte es in einem Gebüsch direkt vor ihr. Trixi sprang zur Seite, erstarrte mit angehaltenem Atem. Das kleine Gestrüpp
wackelte. Sie sah es jetzt deutlich. Auf einmal schoss etwas aus dem Gebüsch. Trixi blieb ein Schrei in der Kehle stecken.
Ein schwarzes Eichhörnchen hüpfte auf den Weg, die Augen glänzten wie dunkle Kiesel. Es rannte vor Trixis Füßen über den Hauptweg,
verschwand auf der anderen Seite im Gras und flitzte dann einen Baum hinauf, wo es sich in die dunkle Krone flüchtete.
Als das Eichhörnchen schon längst nicht mehr zu sehen war, hämmerte Trixis Herz noch immer. Sie musste aus diesem Park raus,
sofort. Die ganzen Horrorgeschichten, die man sich in der Stadt über den Täter erzählte – er würde nachts im Park, am See,
an jedem Ort der Stadt lauern, auf sein nächstes Opfer warten, zuschlagen, zustechen, wenn sich wieder die Gelegenheit ergeben
würde –, und die Sorge ihrer Eltern machten sie schon ganz verrückt.
Trixi ballte die Hände in den Taschen zu Fäusten zusammen und verließ eilig den Park, ohne sich umzusehen. Als sie über die
Brücke ging, knarrten die Holzbalken. Trixi warf einen kurzen Blick auf die Telm. Der kleine Fluss floss schwarz und träge
durch die Nacht, als würde er kein Wasser, sondern Teer führen. Sie sprang die drei Steinstufen am Ende derBrücke hinunter und ging auf die Trinitatiskirche zu.
Gerade als sie die Kirchenruine erreicht hatte, hörte sie ein Knarren. Sie zuckte innerlich zusammen. Dann hörte sie es noch
einmal, etwas entfernt, wie von Holzbalken. Sie drehte sich um, konnte die Brücke von hier aus aber nicht mehr einsehen. Sie
ging weiter, am zerfallenen Eingangstor der Kirche vorbei, die Schritte immer schneller. Der Radweg, der um die Ruine herum
und danach weiter am Fluss entlangführte, war verlassen. Trixi überquerte ihn und lief über ein zugewuchertes Rasenstück auf
den Beethovenplatz zu. Sie lauschte auf Geräusche hinter sich, aber das Rascheln ihrer Füße auf dem Rasen war zu laut.
Am Beethovenplatz begann das Komponistenviertel. Trixi eilte über den Platz mit dem Springbrunnen in der Mitte, der seit Jahren
kein Wasser mehr sprühte und dessen Muse in der Mitte voller Graffiti war. Als Flora und Trixi ungefähr neun gewesen waren,
hatten sie sich immer an diesem Brunnen getroffen. Sie fanden das damals unendlich cool, weil sie einen Film gesehen hatten,
in dem sich zwei beste Freundinnen auch immer an einem Springbrunnen trafen.
Trixi war schon fast an dem alten Treffpunkt vorbei, als sie hinter sich etwas Rascheln hörte. Sie kannte das Geräusch, hatte
es vor Sekunden erst selbst erzeugt. Es klang, als würde jemand durchhohes Gras gehen. Sie blieb stehen und drehte sich um. Da war jemand. Eine Gestalt. Schwarz wie ein Scherenschnitt. Trixi
hatte das Gefühl, kochend heißes Wasser schoss ihr in die Kehle und in den Magen, als sie sah, wie die Gestalt näher kam.
Es war ein Mann. Er schritt langsam durch die hohen Gräser. Er war mittelgroß, hatte breite Schultern und eine Kapuze auf,
deren
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