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Traenenengel

Traenenengel

Titel: Traenenengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Gehm
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Mittwoch.«
    Trixi drehte sich auf der Türschwelle um und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Ich pass auf mich auf. Okay?«
    Frau Jerger lächelte traurig, bevor die Tür ins Schloss fiel.
    Trixi ging die Stufen im Hausflur nach unten und steckte sich die Hörer ihres MP 3-Players in die Ohren. Natürlich hatte ihre Mutter Angst um sie, wenn sie abends alleine aus dem Haus ging. Die ganze Stadt hatte
     Angst. Wenn Eltern ihre Kinder nach Einbruch der Dunkelheit überhaupt noch rausließen, fuhren die meisten sie mit dem Auto
     und holten sie auch wieder ab. Die Straßen kamen Trixi abends seit dem Vorfall am See verlassener vor als früher. Nicht dass
     in Telpen jemals viel los gewesen wäre. Doch jetzt sahen selbst die Penner zu, dass sie nachts eine Bleibe fanden. An den
     See ging nachts niemand mehr. Auch tagsüber schien ein Fluch auf ihm zu liegen und nur wenige wagten sich an sein Ufer. Und
     das Freilichtkino machte nicht nur wegen des wechselhaften Wetters schlechte Umsätze. Die Aufführung des Musicals, in dem
     Flora mitspielte, war abgesagt worden und sogar einige Partys von Leuten, mit denen Flora gar nichts zu tun gehabt hatte.
     Die Stadt war wie gelähmt. Solange der Täter noch frei herumlief, würde das auch so bleiben.
    Dabei konnte er längst über alle Berge sein. Was Trixi so mitbekommen hatte, glaubten die meisten Leute, dieser entflohene
     Vergewaltiger, Silvio Zinke, war es gewesen. Sie begründeten ihren Verdacht damit, dass so etwas Abscheuliches und Erbärmliches
     niemals jemand aus Telpen getan haben könnte.Die Vorstellung, der Täter käme aus Telpen, man würde ihn kennen, hatte schon mit ihm geredet, vielleicht war man sogar mit
     ihm befreundet oder verwandt, war zu schockierend.
    Trixi zog die Haustür hinter sich zu, steckte die Hände in die Jackentaschen und trat auf den Gehweg. Mit schnellen Schritten
     machte sie sich auf den Weg zum Komponistenviertel, in dem Flora wohnte. Es war nicht weit, aber Trixi musste ein Stück durch
     den Stadtpark und über die kleine Brücke bei der Ruine der Trinitatiskirche. Eigentlich, wurde Trixi bewusst, war es ein Wunder,
     dass ihre Mutter sie die Strecke alleine zu Fuß gehen ließ. Von dem hechelnden anonymen Anrufer hatte sie ihr lieber gleich
     gar nichts erzählt. Wahrscheinlich war es sowieso nur irgendein Spinner gewesen.
    Trixi schob die Gedanken beiseite, folgte der Efeugasse bis zur Kreuzung und drehte die Lautstärke am MP 3-Player hoch. Die Musik musste laut sein, schnell, sie musste in ihre Ohren hageln, musste Trixi in einen Sog ziehen. Sie musste
     sie spüren. Nicht nur hören.
    Menschenfressermusik
nannte sie Lasse immer. Ihr Vater hatte Angst, die Musik würde Trixi aggressiv machen. Was sie aggressiv machte, war das seichte
     Gedudel, das er hörte. Ihre Musik war Medizin. Eine Wundermedizin gegen alles. Über die Kopfhörer drang sie in ihren Körper,
     der Bass sackte in ihren Magen, der Widerhall der E-Gitarre stach bis in dieZehenspitzen, das Schlagzeug übernahm den Puls und die Stimme füllte den Kopf bis zum Platzen.
    Am liebsten hätte Trixi laut mitgeschrien. Sie war sauer. Auf jemanden, den man gerade nicht anschreien konnte. Durfte. Sollte.
     Sie war sauer auf Flora. Wieso hatte sie ihr nichts davon gesagt, dass sie mit Andro am See gewesen war? Wieso hatte sie behauptet,
     sie wäre alleine hingefahren? Was sollte der Scheiß? Wieso log Flora Trixi an, in so einer Situation? Dass sie der Polizei
     nichts von Andro erzählt hatte, konnte Trixi noch verstehen, aber wieso ihr nicht?
    Sie hatten sich sonst immer alles gesagt, was für sie wichtig war. Jeder hatte auch ein paar Sachen, die privat oder ein Geheimnis
     blieben. Das war okay so. Aber dass Trixi sich Sorgen machte, sich über die Nacht am See den Kopf zerbrach, das musste Flora
     doch klar sein. Und sie erzählte ihr noch nicht einmal, dass sie mit ihrem Freund dort gewesen war.
    Trixi ging über die Kreuzung auf den nur spärlich beleuchteten Eingang zum Stadtpark zu. Vielleicht tat sie Flora auch Unrecht.
     Was wusste sie schon, wie man sich nach so einem furchtbaren Erlebnis fühlte, ob man noch klar denken konnte. Gut möglich,
     dass Flora einfach nur total verwirrt war. Vielleicht hatte sie Andro im ersten Moment wirklich vergessen. So, wie sie auch
     alles andere vergessen hatte.
    Trotzdem drängte sich Trixi ein Gedanke auf, derihr wie ein Eiswürfel über den Rücken lief: Was konnte sie Flora überhaupt noch über den Abend am

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