Traenenengel
Karoline hatte mit Flora telefoniert, sie wollte bei einer Freundin übernachten.
Hagen hatte sich an dem Abend mein Auto ausgeliehen, er wollte nach Pokritz. Es passiert nicht oft, dass wir die Wohnung ganz
für uns allein haben. Also haben wir es genossen. Das klingt jetzt natürlich furchtbar, wenn man bedenkt, was Flora zur gleichen
Zeit durchgemacht hat.
F: Wann haben Sie die Wohnung der Duves wieder verlassen?
A: Am nächsten Morgen, so gegen acht. Ich hatte einen Besichtigungstermin. Ich hatte Karoline angeboten, sie ins Krankenhaus
zu Flora zu begleiten, aber das wollte sie nicht.
F: Auch wenn Sie Flora nicht so gut kennen – könnten Sie sich vorstellen, dass sie Feinde hatte? Dass es irgendjemand aus
ihrem Umfeld getan haben könnte?
A: Vorstellen, dass sie Feinde hatte, kann ich mir sehr gut. Sie hat so eine Art, schon liebenswürdig, aber auch manchmal
sehr laut, damit eckt man schnell mal an. Aber wer diese Feinde sind – da fragen Sie den Falschen.
F: Danke, Herr Gerlinger. Das war so weit erst einmal alles.
***
»Trink wenigstens was.« Karoline Duve hielt ihrer Tochter ein Glas Saft entgegen. »Du bist sowieso schon nur noch ein Strich
in der Landschaft.«
»Weißt du, wie egal mir das gerade ist?« Flora zog ihre Beine auf die Küchencouch und setzte sich in den Schneidersitz. »Von
mir aus könnte ich auch ganz weg sein.«
Frau Duve sah ihre Tochter erbittert an. »Sag so etwas nie wieder.«
»Na was denn?« Flora zuckte mit den Schultern.
»Wen würde das denn schon groß jucken? Dich und Trixi vielleicht. Andro sicher nicht mehr.«
»Ach, und Trixi und ich – wir sind wohl nichts? Wir sind dir vollkommen egal, oder was?« Frau Duves Hand wackelte. Saft tropfte
auf den Fußboden.
Flora starrte auf die drei Saftkleckse auf dem Parkett. »Nein. Seid ihr nicht.« Ihre Lippen lösten sich kaum voneinander.
Einen Moment sagte keiner etwas. Das dumpfe Dröhnen eines Basslaufs und ein hämmernder Rhythmus drangen durch die Wand in
die Küche. Flora sah die Wand an, als wollte sie sie mit einem Blick umstoßen. »Müssen wir uns das echt antun?«
»Er ist nur zweimal die Woche da, wenn überhaupt.« Frau Duve stellte das Saftglas auf den Tisch, zog unter einer Papiertüte
eine Zigarettenschachtel hervor und klappte sie auf. Sie war leer. »Außerdem habe wir schon x-mal darüber geredet.«
»Wann kommt der andere?«
Karoline Duve knitterte die leere Zigarettenschachtel mit einer Hand zusammen und warf sie zurück auf den Tisch. »Götz kommt
später. Er hat noch einen Termin.«
»In Italien?«
Frau Duve sah ihre Tochter fragend an. »Italien? Was soll denn das jetzt wieder?«
Flora verzog den Mund. »Vergiss es.«
Frau Duve betrachtete ihre Tochter mehrere Sekunden, als hätte sie sie eine lange Zeit nicht mehrgesehen. »Ich versteh dich immer weniger«, sagte sie leise.
»Schön. Dann geht es dir ja genauso wie mir.« Flora wich dem forschenden Blick ihrer Mutter aus.
»Flora, ich will dir helfen. Aber du lässt mich nicht.«
»Du kannst mir nicht helfen.«
»Nein, ich bin ja
nur
deine Mutter.« Frau Duve stieß bissig Luft aus. »Du willst mit mir nicht über den Abend am See reden. Du willst mit mir nicht
über Andro reden. Du erzählst mir seit ein paar Tagen überhaupt nichts mehr. Wie soll ich dich da verstehen? Wie soll ich
dir helfen?«
Flora biss sich auf die Unterlippe und starrte auf den Fußboden.
»Vielleicht hast du recht«, fuhr Frau Duve leiser fort. »Vielleicht kann ich dir nicht helfen. Eben weil ich deine Mutter
bin.«
Flora hob den Blick und sah ihre Mutter ausdruckslos an.
»Ich habe mich heute länger mit Isabel unterhalten. Ich weiß nicht, ob ich dir das schon mal erzählt habe, aber sie ist seit
letztem Jahr in Behandlung. Seit diesem Unfall mit ihrem Mann. Sie macht eine Therapie.« Frau Duve sah, wie sich das Gesicht
ihrer Tochter verhärtete.
»Und? Was hat das mit mir zu tun?«
»Die Psychotherapeutin soll wirklich gut sein. Sie behandelt auch Jugendliche. Ich habe mich erkundigt.Diesen Donnerstag wäre am Nachmittag noch ein Termin frei.«
Einen Moment starrte Flora ihre Mutter ungläubig an. Dann schoss sie in die Höhe und stand mit einem Satz auf. »Spinnst du?
Du hast einen Termin bei so einer Psychotante für mich gemacht?«
»Irgendetwas musste ich doch machen. Ich kann nicht länger zusehen, wie du dich immer tiefer zu Hause vergräbst«, erwiderte
Frau Duve. »Sie kann dir vielleicht helfen, mit
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