Traenenengel
Er hatte
keine Brille auf, die Haare waren nass. Er hat einfach nur dagestanden und sie angesehen. Sie weiß nicht mehr, wie lange,
glaubt aber, mehrere Minuten. Dann hat er sich umgedreht, ist von der Insel gesprungen und zum Ufer geschwommen. Danach hat
sie wieder das Bewusstsein verloren.«
»Hat sie gesehen, zu welchem Ufer?« Sälzer legte den Gang ein und fuhr los, als die Ampel auf Grün schaltete.
»Nein. Da war sie bereits bewusstlos. Das Nächste, an was sie sich erinnert, ist der Rentner, der sie gefunden hat.«
»Sonst nichts? Er hat nur dagestanden und sie angesehen? Hat er irgendwas gesagt?«
»Soweit Flora Duve sich bis jetzt erinnert, nichts.«
»Das ist nicht viel«, fand Sälzer.
»Nicht viel? Immerhin haben wir den Täter. Der kann uns den Rest erzählen.«
»Wenn wir Glück haben, tut er das.« Sälzer bog nach links Richtung Industriegebiet ab. »Ist sonstnoch etwas rausgekommen?« Wieder hörte Sälzer Papier rascheln.
»Flora Duve sagt aus, dass sie sich in den ersten Tagen nach dem Überfall wirklich an gar nichts erinnern konnte. Die ganze
Nacht war wie ausgelöscht. Erst nach und nach tauchten Erinnerungsfetzen auf. Sie sagt, sie hat sich dagegen gewehrt. Ahnte
etwas. Dann, als wir mit Patrick bei ihr vor der Tür standen, kam die Erinnerung wie eine Welle auf sie zu.«
»Und da stand der Täter gleich neben uns.« Sälzer sah die Szene im Treppenhaus bildlich vor sich: Flora im Türrahmen. Patrick
mit dem Geschenk in der Hand. Trixi dahinter. Und Hagen Gerlinger. »Wenn sie es zu dem Zeitpunkt schon wusste, wieso kommt
sie dann erst jetzt mit der Anzeige? Hat Hagen sie bedroht?«
»Wohl indirekt. Sie wohnen quasi Wand an Wand. Flora hatte Angst. Hagen hatte in der Nacht am See Macht über sie. Sie wusste,
dass er es jederzeit wieder tun konnte. Sie meinte, er hätte nie konkret etwas gesagt, aber Bemerkungen gemacht und sie angesehen
wie in dieser Nacht auf der Badeinsel. Außerdem spielt natürlich die Beziehung zwischen Floras Mutter und Götz Gerlinger eine
Rolle. Flora wollte ihrer Mutter zuliebe nicht gleich zur Polizei gehen, wollte nicht den Sohn von ihrem aktuellen Freund
anzeigen. Sie dachte, es ließe sich anders regeln.«
»Hat sie etwas gesagt, warum Hagen es getan hat? Ich sehe noch immer kein Motiv.«
»Sie glaubt, er hätte irgendwelche satanistischen Wahnvorstellungen.«
Sälzer überlegte ein paar Sekunden. »Wie kommt sie darauf?«
»Sie hat sich am Anfang, als die Gerlingers so halbwegs bei ihnen einzogen, mal aus Neugierde in seinem Zimmer umgesehen.
Wollte wissen, wie der Sohn vom Neuen der Mutter ist. Dabei hat sie ein paar Bücher entdeckt, die meisten über Religion, Hexenverfolgung,
Satanismus, Dämonen, Okkultismus, und auf seinem MP 3-Player jede Menge Black Metal. Eins der Bücher lag neben seiner Matratze aufgeschlagen. Auf der Seite war eine Opferzeremonie dargestellt.
Damals hatte sie sich nichts dabei gedacht. Erst im Nachhinein, als sie erfuhr, wie man sie auf dem See gefunden hatte, wurde
ihr die Verbindung bewusst.«
»Eine Opferzeremonie.« Sälzer sprach das Wort langsam vor sich hin. Er dachte an die Aussage von Herrn Ludwig und seine Vermutung.
»Das ist zwar ein ziemlich krankes Motiv, aber die ganze Geschichte ist ziemlich krank«, meinte Masaryk.
Sälzer bog in die Straße, in der sich die Firma
Toolpit
befand. Er wusste nur, dass
Toolpit
Werkzeuge herstellte und Hagen Gerlinger dort ein Praktikum in der Vertriebsabteilung machte. »Ich binjetzt da«, sagte Sälzer und fuhr auf den Bürgersteig, direkt vor den Eingang der Firma. »Ich meld mich dann später.«
Vor dem Firmeneingang standen drei Männer, die offenbar gerade eine Raucherpause einlegten. Sälzer stieg aus, ging um das
Auto herum und wollte gerade an den Männern vorbei, als er aus den Augenwinkeln einen dunkelblauen VW an seinem Dienstwagen
vorbeifahren sah. Er drehte sich um. Auf der Beifahrertür stand mit weißer Schrift:
Götz Gerlinger. Kanzlei für Immobilienvermittlung GbR, Wohn-und Gewerbeimmobilien.
Doch es war nicht Götz Gerlinger, der am Steuer saß. Der Fahrer war höchstens zwanzig, trug eine Brille und hatte kurze, glatte,
hellbraune Haare.
Sälzer rannte zurück zum Dienstwagen, riss die Tür auf, stieg ein, ließ den Motor an und fuhr vom Bürgersteig, dass die Karosserie
knackte. Die drei Raucher sahen dem Auto erstaunt nach.
Der dunkelblaue VW mit Hagen Gerlinger am Steuer war bereits von der Straße in einen
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