Traenenengel
Kreisverkehr eingebogen, von dem er jetzt
Richtung Innenstadt abfuhr. Sälzer drückte das Gaspedal durch und nahm den Fuß erst kurz vorm Kreisverkehr wieder runter.
Er fluchte und schlug mit der Faust auf das Lenkrad, als sich ein langsamer alter Ford direkt vor ihm einfädelte. Er trommelte
mit den Fingern auf den Lenker, während er dem Ford mit dem gefühlten Tempo eines Dreiradfahrers durch denKreisverkehr folgte. Auch der Ford bog Richtung Innenstadt ab. War ja klar, dachte Sälzer.
Er setzte dreimal vergebens zum Überholen an. Erst nach zwei Ampeln und durch eine nicht ganz den Verkehrsregeln entsprechende
Benutzung einer Linksabbiegerspur gelang es Sälzer, am Ford vorbeizuziehen.
Er folgte der Straße Richtung Innenstadt, den Oberkörper zur Windschutzscheibe vorgelehnt, das Basecap in den Nacken geschoben.
Seine Hände krampften sich ums Lenkrad. Er meinte schon, den dunkelblauen VW verloren zu haben, als er ihn an einer großen
Kreuzung gerade noch auf die Gabelhoferstraße biegen sah.
Kurz bevor Sälzer die Kreuzung erreichte, schaltete die Ampel auf Rot. Unter Gehupe von allen Seiten fuhr Sälzer an dem Kleinwagen,
der vor ihm an der Ampel hielt, vorbei und nahm den von rechts und links kommenden Fahrzeugen die Vorfahrt, als er mit quietschenden
Reifen nach links auf die Gabelhofer bog.
Er sah kurz in den Rückspiegel. Ein paar Autos standen quer auf der Straße, es gab ein Hupkonzert, jemand brüllte, jemand
stieg wütend aus einem Auto, aber es war nichts Ernsthaftes geschehen. Natürlich, er hätte auch das Blaulicht aufs Dach setzen
können. Aber wozu – es ging auch so. Er wandte den Blick wieder auf die Straße vor sich. Sechs Wagen weiter vorne fuhr Hagen
Gerlinger.Ihn einzuholen dürfte kein Problem mehr sein.
Sälzer sah, dass Hagen den Blinker nach rechts setzte, den dunkelblauen VW an den Straßenrand fuhr und vor einem alten, großen
Gebäude hielt. Sälzer kannte das Gebäude. Er war erst vor ein paar Tagen dort gewesen. Hatte es zum ersten Mal betreten. Damals
wie heute war er einem Täter auf der Spur. Es war die Heinrich-Heine-Schule. Was wollte Hagen Gerlinger dort?
Leif Sälzer blinkte ebenfalls rechts und nahm den Fuß vom Gaspedal. Während er sich der Schule näherte, sah er, wie ein blondes
Mädchen die Treppe vor dem Schultor heruntergelaufen kam und auf den dunkelblauen VW zurannte. Es war groß, schlank, hatte
die dicken Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Der Pony reichte bis zu den Augen. Beatrix Jerger.
Sälzer sah, wie Trixi die Beifahrertür öffnete und in den Wagen stieg. Er hatte die Heinrich-Heine-Schule und den dunkelblauen
VW fast erreicht. Sein Plan war es, sich direkt vor den VW zu stellen, um ihm den Weg zu versperren. In dem Moment schob sich
ein großer, grauer Lkw-Anhänger vor sein Gesichtsfeld, zwischen den Dienstwagen und den VW. Sälzer trat auf die Bremse und schlug mit der Faust auf die Hupe, die einen kläglichen Ton von sich gab. »Was ist denn heute
los, verdammt!« Sälzer hatte sich so auf den VW vor sich konzentriert, dass er den Lkw,der aus einer Einfahrt gegenüber der Schule rückwärts ausparkte, nicht gesehen hatte. Er nahm jetzt die gesamte Straßenbreite
ein.
»NEIN – NEIN – NEIN!« Sälzer schlug zu jedem Nein auf die Hupe.
Eine Hand kam aus dem Fahrerfenster des Lkws und winkte kurz. Langsam setzte der Lkw zurück.
Sälzer überlegte, ob er auf den Bürgersteig fahren sollte, der allerdings voller Schüler war. Er ruckelte mit dem Schaltknüppel
hin und her, unentschlossen, was er tun sollte. In dem Moment legte der Lkw den Vorwärtsgang ein, stieß eine blaugraue Wolke
aus und tuckerte los.
»Na endlich«, murmelte Sälzer. Ihm blieb nichts anderes übrig, als hinterherzufahren. Immerhin war er wieder in Bewegung und
stand nicht mehr hilflos am Straßenrand. Alle paar Sekunden scherte er aus, um nach dem dunkelblauen VW Ausschau zu halten
und zu sehen, ob er überholen konnte. An der nächsten Ampelkreuzung bog der Lkw Richtung Fernstraße ab. Sälzer blieb stehen,
obwohl Grün war, und starrte auf die Kreuzung. Der dunkelblaue VW war verschwunden. Eine blaugraue Wolke löste sich langsam
mitten auf der Kreuzung auf. Hinter ihm hupte es.
»Ene, mene, miste«, murmelte Sälzer, dann fuhr er geradeaus, an der Telm entlang. Die Straße führte aus der Innenstadt hinaus.
Nach ein paar Metern gab es einen Abzweig zu einem Wohngebiet, dannendete die Straße an einer T-Kreuzung
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