Träum weiter, Liebling
nicht mehr als ein Flüstern zustande. »Warten Sie draußen.«
Jede andere wäre davongerannt, nachdem sie dem Teufel getrotzt hatte, aber sie nicht. Mit hocherhobenem Kopf und stolz aufgerichtetem Rücken schritt sie zur Tür.
»Nehmen Sie das Geld«, brachte er noch mühsam hervor.
Selbst jetzt noch unterschätzte er sie. Er hatte erwartet, dass sie ihn verwünschen und dann hinausstürmen würde. Aber Rachel Stone war stärker als falscher Stolz. Erst nachdem sie auch den letzten Geldschein aufgehoben hatte, ging sie.
Als sich die Tür hinter ihr schloss, lehnte er sich schwer gegen den Tresen und sank zu Boden. Dort saß er, die Arme auf die angezogenen Beine gestützt, und starrte wie blind vor sich hin. Die letzten zwei Jahre liefen vor seinem geistigen Auge ab wie eine alte Wochenschau in Schwarz-Weiß. Alles, das erkannte er jetzt, hatte zu diesem Augenblick geführt: die Tabletten, der Alkohol, die Isolation.
Vor zwei Jahren hatte ihm der Tod Frau und Kind genommen und heute seine Menschlichkeit. Er fragte sich, ob es zu spät war, sie sich zurückzuholen.
6
In seinem Job war Ethan Bonner eigentlich verpflichtet, alle seine Mitmenschen zu lieben, doch die Frau, die neben ihm auf dem Beifahrersitz seines Camrys saß, konnte er beim besten Willen nicht ausstehen. Als er von der Autokinoeinfahrt auf die Landstraße hinausbog, ließ er den Blick kurz über ihre klapperdürre Gestalt, die eingefallenen Wangen, das Gesicht, das nun keine Spur mehr von der dicken Schminke aufwies, die es einst geziert hatte, gleiten. Ihre wilde, rostrote Haarmähne hatte nichts mehr gemein mit der gestylten, aufgebauschten Frisur von vor drei Jahren, wie sie sie trug, wenn sie während der Predigtsendungen ihres Mannes in der ersten Sitzreihe unter der berühmten, schwebenden Kanzel saß.
Ihre Erscheinung hatte ihn einmal an eine Kreuzung zwischen Priscilla Presley in den Elvis-Jahren und einer dieser altmodischen Country-and-Western-Sängerinnen erinnert. Doch anstelle von Glitzerkleidern trug sie nun ein ausgewaschenes Karokleid mit einem Knopf, der nicht zu den anderen passte. Sie sah sowohl um Jahre jünger als auch um Jahrzehnte älter aus als die Frau, an die er sich von früher erinnerte. Nur ihre zarten, regelmäßigen Gesichtszüge und die klare Linie ihres Profils waren dieselben.
Er fragte sich, was genau zwischen ihr und Gabe vorgefallen sein mochte. Seine Abneigung ihr gegenüber wuchs. Gabe hatte genug mitgemacht, ohne auch noch mit ihren Problemen belastet werden zu müssen.
Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm ihren kleinen Jungen, der zusammengesunken inmitten ihres erbärmlichen Häufchens von Habseligkeiten hockte: ein alter Koffer, zwei blaue Plastikwäschekörbe mit zerbrochenen Griffen und ein Karton, der mit Tesafilm zugeklebt war.
Zorn und auch Schuldgefühle stiegen bei diesem Anblick in ihm hoch. Wieder einmal hatte er versagt.
Du wusstest von Anfang an, dass ich nicht zum Priester tauge, aber hast Du auf mich gehört? Nein, Du doch nicht. Nicht der große Allwissende. Na, ich hoffe, Du bist jetzt zufrieden.
Eine Stimme, die der von Clint Eastwood täuschend ähnlich war, erklang im Innern von Ethans Kopf. Hör auf zu winseln, Kumpel. Du hast dich doch vor zwei Tagen wie ein Trottel benommen und ihr deine Hilfe verweigert. Also schieb die Schuld nicht auf mich.
Na toll! Gerade als Ethan auf ein wenig Mitgefühl von Marion Cunningham gehofft hatte, rückte ihm Eastwood auf den Pelz. Resigniert fragte er sich, warum er sich überhaupt wunderte.
Ethan bekam selten den Gott zu hören, den er sich wünschte. Im Moment, zum Beispiel, hätte er sich Mrs. Cunningham, die große »Happy Days« - Großmutter gewünscht. Typisch, dass er statt dessen Eastwood bekam. Der Eastwood-Gott war ein typisch alttestamentarischer Gott. Du hast´s versaut, Hombre, also musst du dafür bezahlen.
Gott sprach schon seit Jahren mit Ethan. Als er ein Kind war, kam die Stimme von Charlton Heston, was ganz schön nervig war, denn es war schwer für einen Heranwachsenden, seine Seele vor all dem allmächtigen, republikanischen Zorn zu entblößen. Doch als Ethans Verständnis für die vielen Facetten der göttlichen Macht und Weisheit reifte, verschwand Charlton in der Schublade, zusammen mit vielen anderen Dingen aus seiner Kindheit, und wurde durch drei Fernsehstars ersetzt, alle drei beklagenswert ungeeignet als Repräsentanten des Allerhöchsten.
Wenn er schon Stimmen hören musste, warum dann nicht von
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