Träum weiter, Liebling
kaufen Sie sich ‘n paar neue. Ich kauf Ihnen ein Paar neue. Betrachten Sie‘s als Arbeitsuniform.«
Er hatte gesehen, wie sie wieder und wieder ihren Stolz hinunterschluckte, aber das war für Edward gewesen, nicht für sie selbst. Sie bemühte sich gar nicht, ihren Zorn zu verbergen. »Wenn Sie welche kaufen, dann tragen Sie sie auch selber.«
Mehrere Sekunden verstrichen, in denen er sie offenbar einzuschätzen versuchte. »Sie sind ganz schön hart im Nehmen, stimmt‘s?«
»So hart wie‘s nur geht.«
»So hart, dass Sie nicht mal was zu Essen brauchen.« Sein Blick wanderte zu der Essenstüte in ihrem Schoß. »Essen Sie nun die Pommes, oder wollen Sie nur damit rumspielen?«
»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich nicht hungrig bin.«
»Das sollte erklären, warum Sie wie ein wandelndes Gerippe aussehen. Sie sind magersüchtig, stimmt s?«
»Arme Leute werden nicht magersüchtig.« Wütend schob sie ein weiteres Pommes in den Mund. Es schmeckte so gut, dass sie am liebsten die ganze Packung auf einmal in sich reingestopft hätte. Gleichzeitig jedoch fühlte sie sich schuldig, Edward selbst das bisschen zu rauben. Er liebte Hamburger.
»Kristy sagt, Sie essen kaum.«
Es störte sie, dass Kristy hinter ihrem Rücken mit Gabe über sie sprach. »Sie sollte sich lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Also, warum essen Sie nicht?«
»Sie haben recht. Ich bin magersüchtig. Und jetzt reden wir von was anderem, okay?«
»Arme Leute werden nicht magersüchtig.«
Sie ignorierte ihn und ließ sich noch ein Pommes auf der Zunge zergehen.
»Versuchen Sie mal den Hamburger.«
»Ich bin Vegetarierin.«
»Bei Kristy haben Sie auch Fleisch gegessen.«
»Was sind Sie, die Essenspolizei?«
»Ich kapier das nicht. Außer...« Er studierte sie mit einem schlauen Blick. »An diesem ersten Tag, als Sie ohnmächtig wurden, da hab ich Ihnen einen kleinen Kuchen gegeben, und Sie haben versucht, ihn an Ihr Kind weiterzureichen.«
Sie versteifte sich.
»Das ist es also, nicht wahr? Sie geben das ganze Essen Ihrem Kind.«
»Sein Name ist Edward. Und das steht ganz oben auf der Liste von Dingen, die Sie nichts angehen.«
Er starrte sie kopfschüttelnd an. »Das ist verrückt, wissen Sie das? Ihr Junge kriegt genug zu essen. Sie sind diejenige, die sich zu Tode hungert.«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Verdammt, Rachel. Sie sind echt vollkommen übergeschnappt.«
»Bin ich nicht!«
»Dann erklären Sie‘s mir.«
»Ich muss Ihnen gar nichts erklären. Im übrigen sollten Sie ganz still sein. Falls Sie‘s noch nicht bemerkt haben, Sie haben die gepolsterte Zelle zwischen Normal und Übergeschnappt schon vor gut hundert Meilen durchschritten.«
»Wahrscheinlich verstehen wir uns deshalb so gut.«
Sein Ton war so gefällig, dass sie fast lächeln musste. Er trank einen Schluck aus seiner Dose. Sie ließ den Blick an der Filmleinwand vorbei zum Heartache Mountain gleiten und musste daran denken, wie sehr ihr der Anblick dieser Berge ans Herz gegangen war, als Dwayne sie hierher brachte. Anfangs, wenn sie von ihrem Zimmerfenster aus den Blick über die grüne Landschaft hatte schweifen lassen, hatte sie immer gedacht, sie würde das Antlitz Gottes berühren.
Sie wandte den Blick Gabe zu, und für den Bruchteil einer Sekunde sah sie in ihm nur ein anderes menschliches Wesen, nicht einen Feind. Sie sah jemanden, der ebenso verloren war wie sie und entschlossen, es nicht zu zeigen.
Er lehnte den Kopf an eine Kletterstange und betrachtete sie. »Ihr Junge... Er bekommt jetzt jeden Abend ein anständiges Abendessen, nicht wahr?«
Ihr Gefühl der Verbundenheit verpuffte. »Sind wir schon wieder bei diesem Thema?«
»Antworten Sie auf meine Frage. Hat er anständig zu Abend gegessen?«
Sie nickte widerwillig.
»Und gefrühstückt?« erkundigte er sich.
»Nehm ich an.«
»Es gibt Snacks in der Tagesstätte und ein reichliches Mittagessen. Ich wette, dass Sie oder Kristy ihm noch einen Snack geben, wenn er nach Hause kommt.«
Aber was ist im nächsten Monat? dachte sie. Oder nächstes Jahr? Ein kalter Schauder überlief sie. Etwas Gefährliches tat sich vor ihr auf.
»Rachel«, sagte er ruhig, »Sie müssen aufhören zu hungern.«
»Sie wissen ja gar nicht, wovon Sie reden!«
»Dann erklären Sie‘s mir.«
Wenn er grob oder unfreundlich gewesen wäre, dann wäre es nicht so schlimm gewesen, aber gegen seinen ruhigen, vernünftigen Ton konnte sie sich kaum wehren. Sie raffte sich zu einer
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