Träum weiter, Liebling
Ihnen Ihre Großmutter nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, den Leuten solche Fragen zu stellen?«
»›Den Leuten‹ vielleicht schon, Bonner. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Sie dazugehören. Ich bin mir nicht mal sicher, ob Sie menschlich sind.«
»Ich hab was Besseres zu tun, als hier rumzusitzen und mich von Ihnen beleidigen zu lassen.« Wütend schnappte er sich seine Dose, die er im Sand abgestellt hatte, und erhob sich. »Los, gehen Sie wieder an die Arbeit.«
Rachel, die dem Davonstapfenden nachsah, überlegte, ob sie ihn vielleicht beleidigt hatte, denn er wirkte ziemlich beleidigt. Der Gedanke gefiel ihr. Hochzufrieden trank sie ihren Schokoladenshake.
Ethan trat aus seinem Büro und folgte dem fröhlichen Kinderlärm zum Spielplatz hinter der Kirche, wo die Kinder darauf warteten, von ihren Eltern abgeholt zu werden. Er sagte sich, dass dies die beste Gelegenheit war, ein wenig mit den Gemeindemitgliedern in Kontakt zu kommen, die nicht zu seiner Kongregation gehörten, doch in Wirklichkeit wollte er nur Laura Delapino sehen.
Als er beim Spielplatz auftauchte, kletterten die Briggs-Zwillinge von ihren Schaukeln und rannten zu ihm.
»Weißt du, was? Tyler Baxter hat auf den Boden gekotzt.«
»Cool«, entgegnete Ethan.
»Ich hätt auch fast gekotzt«, gestand Chelsey Briggs, »aber Mrs. Wells hat mich Strohhalme austeilen lassen.«
Ethan musste lachen über das Bild, das sich vor seinem geistigen Auge formte. Er liebte Kinder und freute sich eigentlich schon seit Jahren auf eigene. Gabes Sohn Jamie war sein Liebling gewesen. Selbst nach zwei Jahren fiel es ihm schwer, mit dem schrecklichen Unglück fertig zu werden, das seinem Neffen und seiner sanften Schwägerin zugestoßen war.
Er hätte nach ihrem sinnlosen Tod beinahe das Priesteramt aufgegeben, doch war er immer noch besser davongekommen als der Rest seiner Familie. Die Tragödie hatte seine Eltern in eine Krise getrieben, die fast zur Scheidung geführt hatte, und Cal hatte alles aus seinem Leben verdrängt und nur mehr ans Footballspielen gedacht.
Glücklicherweise hatte die Ehe von Jim und Lynn Bonner nach einer kurzen Trennungsphase eine drastische Veränderung erfahren, so dass sie sich nun wieder wie Frischverliebte benahmen und obendrein ihr Leben auf den Kopf gestellt hatten. Im Moment hielten sich die beiden in Südamerika auf, wo sein Vater als Missionsarzt tätig war und seine Mutter eine örtliche Kooperative zur Vermarktung der einheimischen Handwerkskunst aufbaute.
Was Cal betraf, so war ein Physikgenie namens Dr. Jane Darlington in sein Leben getreten, so dass die Familie nun wieder über ein neues Mitglied verfügte, die acht Monate alte Rosie, ein richtig süßer, blauäugiger kleiner Kobold, nach deren Pfeife alle tanzten.
Keiner von ihnen hatte jedoch eine so schwere Zeit durchgemacht wie Gabe. Manchmal fiel es Ethan schwer, sich daran zu erinnern, was für ein sanfter, gütiger Mensch sein Bruder früher gewesen war. So weit Ethan zurückdenken konnte, war immer irgendein verletztes Tierchen im Haus gewesen: ein Vogel mit einem gebrochenen Flügel in der Küche, ein streunender Hund, der in der Garage gesund gepflegt wurde, ein Stinktierjunges, das Gabe in seinem Zimmerschrank versteckte, um es dort aufzuziehen, bis es groß genug war, um allein überleben zu können.
Gabe hatte sein Leben lang Tierarzt werden wollen, aber ein Multimillionär zu werden, das war nicht geplant gewesen. Sein plötzlicher Reichtum amüsierte die Familie, da Gabe bekannt war für seine Gleichgültigkeit dem Geld gegenüber. Es war durch Zufall geschehen.
Gabe war unglaublich wissbegierig und hatte eigentlich dauernd an irgend etwas herumgebastelt. Ein paar Jahre, nachdem er seine Tierarztpraxis im ländlichen Georgia eröffnet hatte, erfand er eine besondere Beinschiene für das Vollblutpferd eines örtlichen Rennstallbesitzers, das er behandelte. Die Schiene bewährte sich derart gut, dass sie rasch von den übrigen reichen Rennstallbesitzern übernommen wurde, und Gabe machte ein Vermögen aus dem Patent.
Er war schon immer der vielschichtigste von den drei Brüdern gewesen. Während Cal aggressiv und streitsüchtig war, sich sehr schnell aufregte, sich aber ebenso schnell wieder beruhigte, behielt Gabe seine Gefühle meist für sich. Dennoch war er der erste, zu dem Ethan als Kind immer gelaufen kam, wenn ihm etwas zugestoßen war. Seine ruhige Stimme und die langsamen, gemächlichen Bewegungen beruhigten einen verwirrten
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