Traeume ernten
Nachthemd mit dem fröhlichen Bären, ein 62-jähriges Mädchen, das immer verzweifelter auf mich einredet. Den Ausdruck »Raubbau an deinem Körper betreiben« höre ich inzwischen täglich und wiederhole ununterbrochen: »Es dauert nicht mehr lange, Mama, nicht mehr lange, dann wird alles gut.« Ich bin froh, dass sie gekommen ist â als letzte Sendbotin der Normalität, während mir das Leben weiter über den Kopf wächst.
Manchmal weià man erst hinterher, dass man zu weit gegangen ist. Es ist Sommer, und ich sitze mit Miriam und Annemiek auf der Terrasse eines Cafés an der Prinsengracht in Amsterdam. Boote mit netten, gut gekleideten Menschen gleiten über das Wasser, ich höre sie miteinander reden, lachen, ich sehe sie wie durch eine beschlagene Scheibe. »Geht es dir gut?«, fragt Annemiek. Am Tag zuvor war ich mit Simone und den Mädchen an der Küste. Es war drückend warm, und die Menschen tummelten sich am Strand. Wie auf einem schlecht belichteten Foto hatte das weiÃe Licht alle anderen Farben verdrängt. Ich war alleine ins Meer hineingelaufen, immer weiter hinein ins seichte Wasser. Ich hatte an das Weingut gedacht, die Weinfelder, die Schule â hatte das Gefühl gehabt, dass etwas Schweres mich nach unten zieht. Mein Blick war auf den Horizont gerichtet, und ich war immer weiter gelaufen, bis das Wasser meine Brust erreichte. Noch ein wenig weiter, und du hast das alles hinter dir, hatte ich gedacht, wirklich, das hatte ich gedacht, bevor ich all meine Kraft dazu einsetzte, mich umzudrehen und zurück zur Küste zu schwimmen.
»Du bist aber ziemlich dünn geworden«, bemerkt Miriam vorsichtig. Sie schenkt mir noch ein Glas Wein ein, lehnt sich zu mir hinüber, es fühlt sich an, als würde eine Tasche mit schweren Steinen allmählich von meinem Rücken gleiten. Ich blicke zu den Menschen auf dem Wasser hinüber, sehe sie jetzt scharf, merke, wie glücklich sie alle sind. Ich sehe jetzt auch mich selbst, meinen Körper, so dünn, dass schon seit ein paar Monaten meine Regelblutung ausgeblieben ist. Fast verschwunden sind auch meine Brüste, die ich immer zu groà fand, die ich jetzt aber vermisse.
»Gut«, sage ich, »dann werden wir jetzt erst einmal eine Käseplatte bestellen.«
13
Es ist, als hätte mich jemand wachgerüttelt. Als ich wieder in Frankreich bin, nutze ich die letzten Wochen der Sommerferien, um meinen Akku weiter aufzuladen. Es ist nur wenig Büroarbeit zu erledigen, die Bauarbeiter sind in der Sommerpause. Ich zwinge mich, ruhig ein Buch zu lesen, unternehme lange Wanderungen mit den Mädchen, fahre mit ihnen zu einem Kinderbauernhof und entdecke aufs Neue, wie lieb und süà und klein sie sind. Im Kühlschrank stehen jetzt regelmäÃig zwei Tüten Schlagsahne und eine Flasche mit fettem Trinkjoghurt â es wirkt.
An diesem Nachmittag bin ich auf dem Gut mit einem Weinanalytiker verabredet, der Ãnologe ist mir in der Schule empfohlen worden. Die Trauben sind fast tiefviolett, es wird nicht mehr lange dauern bis zur Ernte. Also gehe ich mit Bruno durch den Weinkeller. »Du wirst alle Weinfässer reinigen müssen«, sage ich, während ich mich fieberhaft frage, wie und mit welchem Mittel Bruno das im vergangenen Jahr gemacht hat.
»Okay, dann werde ich schon mal die Hochdruckreiniger reinholen«, sagt Bruno, »und ich meine, es ist auch noch genügend Oxigrap da.« Natürlich, denke ich erleichtert, er hat letztes Jahr mit Mia zusammengearbeitet, er weià doch ein paar Dinge.
In einer Staubwolke steigt ein kleiner Mann aus einem weiÃen Auto vor dem Weinkeller. Er begutachtet mich von Kopf bis Fuà und nickt zufrieden. »Xavier Billet«, stellt er sich vor, »alors, câest vous la vigneronne?« Ich nicke, woraufhin das Grinsen des Mannes noch ein wenig breiter wird. »Hmmm!«, sagt er zufrieden. Ich betrachte die Wölbung seines Bauches, seine zufriedenen kleinen Augen und kann mir ohne groÃe Anstrengung vorstellen, wie er an einem gut gedeckten Tisch sitzt.
Ich lade ihn ein, in den Weinkeller zu kommen, stelle ihm Bruno vor, der schwankend eine Leiter herunterklettert, um Xavier Billet dann seine feuchte Hand zu geben. »Nicht schlecht!«, sagt Xavier, als er die glänzende Presse und den neuen Entstieler beklopft. Ich zeige ihm den Sortiertisch und den Fasskeller, schlieÃlich gehen wir
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