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Traeume ernten

Traeume ernten

Titel: Traeume ernten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lidewij van Wilgen
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springen, ein Stück weiterrennen, einen anderen Weinstock berühren und dann wieder zurücklaufen. Der betagte Carignan lässt die ungewohnte Aktivität gelassen über sich ergehen. Dann spazieren wir weiter durch den Wald, wo ein blasses, unzufriedenes Mädchen neben mir hertrottet und zum vierten Mal sagt, dass es todmüde sei.
    Â»Wie schade«, sage ich freundlich, »dann machst du wohl lieber nicht mehr mit.« Erschrocken schaut sie mich an. Ihre Mutter ist wohl viel netter.
    Unter den hohen Eichen, am Jagdhaus auf dem Grundstück meines Nachbarn Monsieur Escandes, spielen wir »Nicht den Boden berühren«. Die Kinder springen über die Treppen, von dort auf einen Baumstumpf, auf eine Mauer, auf einen großen Stein und so weiter. Marijn lacht mich an, stolz, sie scheint zu schweben, ihre Wangen glühen vor Aufregung. Ich blicke in die weiche, neblige Landschaft, die sich wie in hintereinanderstehenden Kulissen bis zur Küste erstreckt. Etwas in mir zieht sich schmerzlich zusammen – bald sind wir nicht mehr hier.
    300 Kilometer entfernt. Eine große Halle in Haarlem, eine Weinmesse von »Okhuysen«. Brenda, die Assistentin von Xavier van Okhuysen, hat mich im strömenden Regen vom Bahnhof abgeholt. Energisch hat sie mein Gepäck in ihren Familienwagen gestellt. Ich habe die Krümel gesehen, die ihr Sohn dort hinterlassen hat – sie ist jung, voller Tatendrang und sehr nett.
    Mit großen Schritten geht sie mir nun durch die Halle voraus, die mit Tischen vollgestellt ist und in der dutzende Menschen mit einem Glas in der Hand hin- und herlaufen. Ich folge ihr mit meinem kleinen Koffer, komme an Xavier vorbei, der mir einen Kuss gibt, und sehe auch seinen Vater, Louis. Es ist schön, hier zu sein. Aad steht schon hinter einem der Tische in der Ecke – mit großen Gesten präsentiert er einem Mann in moosgrüner Bundfaltenhose einen Wein. Ich geselle mich zu ihm, schaue mich um. Die hohen Regale mit den Weinpaletten sind zur Seite geschoben worden. An mehreren Tischen lassen Produzenten nun ihren Wein verkosten. Ich erkenne die beiden Brüder aus dem Burgund mit ihren Weißweinen, den großen, ruhigen Mann mit seinem Dessertwein, einen vornehmen Herrn aus dem Bordelais. In der Mitte des Raumes steht ein langer Tisch mit dutzenden geöffneten Flaschen. Beinahe ausgehungert schleichen große Gruppen Menschen darum herum, es ist die Chance des Jahres, kostenlos einen Haut-Brion zu probieren, einen Haut-Marbuzet , einen Yquem vielleicht. Ein älteres Ehepaar löst sich aus der Menge und kommt auf unseren Tisch zu.
    Â»Ach, wie schön Sie wiederzusehen!«, sagt die Dame. Sie hat einen blonden Pagenschnitt und fröhliche Augen. Sie schmiegt sich an ihren Mann, völlig ungezwungen und als Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit. »Letztes Jahr haben wir Ihren Wein auch probiert«, sagt sie, »Sie haben uns Fotos vom Weingut gezeigt – wunderschön. Und wie geht es Ihren Töchtern? Wie alt sind sie?« Sie erzählt uns, welchen unserer Weine sie gekauft hat, zu welchem Anlass sie ihn getrunken hat, wie ihre Gäste ihn fanden – eine sympathische Frau.
    Es macht mir Freude, mit meinen Weinen einen Platz in ihrem Leben einzunehmen.
    Ein junges Paar kommt an unseren Tisch und erzählt uns, dass es immer eine Flasche La Dame im Haus habe, dann ein Vater und sein Sohn, die wir aus dem letzten Jahr kennen, und ein glücklicher junger Mann, der eine Ausbildung zum Winzer macht. Ich stelle fest, wie viele nette, interessierte Menschen hier sind – wie viel näher mir diese Menschen sind als wer auch immer in Murviel. Vor noch nicht allzu langer Zeit wohnten wir in derselben Stadt, gingen unsere Kinder auf dieselbe Schule, arbeiteten wir womöglich im gleichen Beruf. Manchmal hatten wir sogar die gleichen Träume. Jetzt trinken all diese Menschen unseren Wein, und damit ist mein Traum wahr geworden: Mas des Dames lebt.
    Etwas weiter entfernt steht eine junge Frau mit kurzen blonden Locken hinter einem der Tische. Sie trägt eine Hose aus grober Baumwolle, eine einfache Weste und wird ungefähr so alt sein wie ich, Ende 30. Sofort habe ich das Gefühl, dass ich sie mag. Als sie auf mich zukommt, fällt mir ihr analytischer Blick auf, aber dahinter entdecke ich eine überraschende Sanftmütigkeit. »Je m’appelle Anne« , stellt sie sich vor.
    Sie ist hier, um die Weine ihrer Mutter

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