Träume in Kristall
einem Nebel, als ob ein feiner Regen stillstünde mitten in der Luft, hatte draußen vorm Fenster die Nacht alle Weite verloren, war eingehüllt in eine unendliche Weite. Da waren keine Dächer zu sehen, da war kein Hupen zu hören.
»Ich werde das Fenster zuziehen.« Als ich am Vorhang zu zerren begann, war auch der feucht. Im Fensterglas spiegelte sich mein Gesicht. Es schien jünger als sonst, mein Gesicht. Doch meine Hand, die am Vorhang zerrte, hielt nicht inne. Und mein Gesicht verschwand.
Plötzlich – ich hatte es irgendwann in irgendeinem Hotel gesehen – stieg vor meinem inneren Auge das Fenster eines Zimmers auf im achten Stockwerk. Zwei kleine Mädchen in weitärmeligen roten Kleidern waren auf das Fenster geklettert und spielten. Gleichgekleidete, einander ähnelnde Kinder, es mochten Zwillinge sein. Kinder von Europäern. Bald pochten sie mit ihren geballten Fäusten gegen die Scheibe, bald stießen sie mit ihren Schultern dagegen und rangelten miteinander. Die Mutter strickte und drehte dabei dem Fenster den Rücken zu. Wäre die große Fensterscheibe zerbrochen oder hätte sie sich herausgelöst, wären die Kleinen aus dem achten Stock gestürzt und tot gewesen. Aber nur ich sah es für gefährlich an, – die beiden Kinder und auch ihre Mutter waren völlig unbesorgt. Freilich war bei dem soliden Fensterglas keine Gefahr.
Ich hatte den Vorhang zugezogen und wandte mich um, als vom Bett her der Mädchenarm sagte: »Hübsch ist das!« Wohl weil der Vorhang aus dem gleichen geblümten Stoff war wie die Bettdecke.
»Findest du? Dabei ist er von der Sonne ganz ausgeblichen. Schon völlig abgenutzt.« Ich setzte mich aufs Bett und nahm den Mädchenarm auf den Schoß. »Was hübsch ist, ist dies hier. Es gibt nichts Hübscheres als dich.«
Dann schloß ich den Handteller des Mädchens in meine rechte Hand, ergriff mit der linken Hand das Schultergelenk des Mädchens und begann den Arm vorsichtig im Ellbogen zu krümmen und zu strecken. Und wiederholte das einige Male. »Frecher Kerl!« sagte wie mit einem sanfen Lächeln der Mädchenarm. »Das amüsiert dich wohl, wie?« »Wieso frech? Ich finde das durchaus nicht amüsant.« Wirklich stieg da in dem Mädchenarm ein Lächeln auf, ein Lächeln, das wie ein Lichtschein flackernd über die Haut des Arms hinfloß. Es glich genau dem jungen, frischen Lächeln auf den Wangen des Mädchens.
Ich kannte das, hatte es zuvor gesehen. Dann nämlich, wenn das Mädchen, beide Ellbogen auf den Tisch gestemmt, die Finger beider Hände leicht aufeinanderlegte und das Kinn darauf stützte oder auch eine Wange. Eine Haltung, mag sein, die sich für ein junges Mädchen nicht schickt, und doch war das von einer so heiteren Anmut, daß Begriffe wie ›aufstemmen‹ oder ›aufeinanderlegen‹ oder ›aufstützen‹ unpassend schienen. Von den Schulterrundungen über die Finger, das Kinn, die Wangen, die Ohren, den schlanken Nacken bis hin zum Haar, fügte sich alles zusammen zur schönen Harmonie eines musikalischen Satzes. Auch ging das Mädchen geschickt mit Messer und Gabel um, wobei es unter den Fingern, die es dafür benutzte, Zeigefinger und kleinen Finger von Zeit zu Zeit, unbewußt und ohne ihre Krümmung zu verändern, ein wenig anhob. Selbst die Bewegungen, mit denen die Speisen zwischen die kleinen Lippen geschoben, gekaut und hinuntergeschluckt wurden, machten mir nicht den Eindruck, als wäre ein Mensch beim Essen; vielmehr spielten hier Hände und Gesicht und Kehle eine liebliche Musik. Und dann floß dabei das Lächeln des Mädchens schimmernd auch über die Haut der Arme hin. Wenn mir nun schien, dieser eine Mädchenarm lächelte, so kam dies daher, daß die zarten, angespannten Muskeln des Mädchens, während ich den Ellbogen bald krümmte, bald wieder streckte, in feinen Wellen zu atmen begannen und zarte Lichter und Schatten sich über die helle, glatte Haut des Armes verbreiteten. Als sich zuvor der Mädchenarm erschrocken zusammengekrümmt, weil ich die vom langen Nagel verdeckte Fingerkuppe berührt hatte, war ein Lichtschein flakkernd über diesen Arm gelaufen und hatte meine Augen geblendet. Wenn ich daraufin den Mädchenarm zu beugen versuchte, war dies gewiß nicht aus purem Übermut geschehen. Zwar hatte ich dann damit aufgehört; doch als ich ihn nun betrachtete, wie er still ausgestreckt lag auf meinem Schoß, waren auf dem Mädchenarm noch immer die frischen und lebhafen Lichter und Schatten.
»Du fragst, ob ich das amüsant finde? Sagst,
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