Träume jenseits des Meeres: Roman
der Suche nach ihrem Mann lief sie ins Krankenzelt. Unter der Zeltbahn war es erstickend heiß, Leichengeruch hing in der Luft. Sie fand Ezra schließlich ganz hinten im Zelt. Er las einem ausgemergelten Kind etwas vor, das ausgestreckt und mit trüben Augen auf der Matratze lag.
»Ein Schiff ist gekommen«, raunte sie ihm zu. »Endlich naht Rettung.«
Er schaute nicht auf. »Dann gehst du am besten hin und siehst zu, was es mitbringt«, erwiderte er.
»Komm doch mit«, drängte sie, die Hand leicht auf seine Schulter gelegt.
Er wich ihrer Berührung aus. »Ich habe zu tun.«
Susan biss sich auf die Unterlippe. Sie wehrte sich innerlich dagegen, dass seine Kälte ihr etwas ausmachte, war zu erschöpft für Tränen. Sie ließ ihn bei dem Kind zurück und eilte hinaus.
Die Lady Juliana war ein prächtiger Anblick, als sie beidrehte und den Anker warf. Doch als die Siedler und Sträflinge die Passagiere von Bord kommen sahen, erhob sich ein unbehagliches Raunen, das hässliche Untertöne anzunehmen begann.
»Es ist ein Schiff mit Huren«, flüsterte Billy, der neben Susan am Anleger stand. »Und sieh sie dir nur an. Fett wie Schmalz und fürs Geschäft herausgeputzt. Was glauben die denn, was das hier ist – eine Teegesellschaft?«
Die Atmosphäre war unheilvoll, als die auffällig gekleideten Frauen aus den Ruderbooten stiegen. Ihr liebäugelndes Lächeln verblasste, sobald die Versammelten schweigend eine Gasse bildeten, um sie hindurchzulassen. Sie beschleunigten ihre Schritte.
»Wo bleiben denn die Nahrungsmittel?«, brüllte ein Mann aus der Menge.
»Jawohl, wir brauchen keinen Fick, wir brauchen Futter.«
Die Menge wogte nach vorn. Gilbert trieb rasch seine Frau, Susan und Florence zusammen und führte sie fort. »Das riecht nach Ärger«, murmelte er. »Der Kapitän sagt mir, sie haben nur genügend Vorräte, um die Frauen zu versorgen. Gouverneur Phillip wird einiges davon requirieren müssen, die Frauen wieder an Bord zurück und direkt nach Norfolk Island schicken. Einen Aufstand können wir nicht riskieren.«
Susan schaute in sein besorgtes Gesicht. »Warum wird so ein Schiff geschickt, wenn es nicht genügend Vorräte mitbringt? Ist denen in London denn nicht klar, dass wir sterben?«
Gilbert glättete seinen Schnurrbart und warf einen vernichtenden Blick auf die Neuankömmlinge. »Die Regierung ist in ihrer Weisheit zu dem Schluss gekommen, dass wir mehr Frauen brauchen, um Ruhe und Sicherheit in die Siedlung zu bringen. Wieso sie allerdings auf die Idee kommen, dieser Pöbelhaufen würde uns guttun, das weiß der Himmel.«
Die Huren gingen weiter durch die schweigende, kampfeslustige Menge, und Susan fragte sich, ob London sich auch nur einen Deut um das scherte, was ihnen hier zustieß. Allem Anschein nach waren sie dem Untergang geweiht.
Auf der Surprise, 26. Juni 1790
Jack Quince lag in seinem eigenen Dreck, angekettet an einen Toten. Er war schwach und bestand nur noch aus Haut und Knochen, hatte tagelang weder Wasser noch etwas zu essen bekommen, doch er hatte ebenso wie all die anderen gelernt, dass alles Bitten und Betteln ihnen keine Nahrung brachte; der Kapitän der Surprise schien entschlossen, sie alle umzubringen.
Er kratzte nicht mehr, wenn er die Läuse spürte, war unempfindlich geworden gegen die stechenden eiternden Schnitte von den Prügelstrafen, die er in den endlosen Monaten auf See erhalten hatte. Er roch weder das faulige Fleisch noch die Körperausscheidungen, die im Bilgewasser um ihn herumschwammen. Auch die Schrecken der Klaustrophobie rührten ihn nicht mehr. Er wusste nur, dass er sterben würde, wenn er noch einen Tag hier unten im Laderaum bliebe, und war darauf vorbereitet.
Er schloss die Augen und achtete nicht auf die Ratten, die hin und her huschten und ihre Schnauzen tief in die verwesenden Leichen bohrten. Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie es zu Hause gewesen war. Sussex war eine andere Welt – eine Welt, in der die Sonne den Rücken eines Mannes wärmte, wenn er den Weizen erntete und sein Vieh in den Tälern der South Downs hütete. Dort gab es keine Hungersnot, keinen Schmerz, und vom Tod erwartete man, dass er nüchtern und mit Würde im hohen Alter käme. Die Hecken, die langen Alleen, die friedlichen Dörfer mit ihren kleinen Fachwerkhäusern und Strohdächern, die Tiere auf dem Feld und der kleine Bauernhof, der ihm einst gehörte, kamen ihm inzwischen wie ein Traum vor.
Dann gab es noch Alice. Seine trockenen Lippen
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