Träume jenseits des Meeres: Roman
den leidigen Hunger und die Grausamkeit ihrer Lebensumstände zu ignorieren. Sie war nicht nur ausgehungert und von der Sonne verbrannt, sondern seit dem Mord an zwei Sträflingen vor zwei Jahren in Rushcutters Bay war das Leben aller durch marodierende Eingeborene gefährdet. Sie brachen als wilder Haufen mit Speeren und schrillem Kriegsgeschrei in die Vorratslager ein und töteten Nutzvieh. Warum Gilbert nichts gegen sie unternehmen konnte, wusste sie nicht. Ein paar von ihnen gefangen zu setzen, reichte nicht, und nun hatte es den Anschein, als beabsichtigten die Schwarzen, entweder sich selbst zu Tode zu trinken oder aber sie alle umzubringen.
Wie sie das alles hier hasste! Das Gewöhnliche der Sträflingsfrauen, die Lüsternheit der Männer, die Hitze und die Fliegen, die Tatsache, von Anstand und moralischen Grundzügen der Zivilisation abgeschnitten zu sein. Am meisten aber hasste sie sich selbst, denn wäre sie Ezra treu geblieben, lebten sie heute noch in Cornwall.
Sie stand entschlossen auf und klopfte sich den Staub vom Rock. Auch wenn sie noch so viel nähte und flickte, ihre Kleider sahen einfach wie Lumpen aus. Das kränkte sie, denn sie war immer sehr stolz darauf gewesen, ordentlich auszusehen. Wenn es Gottes Plan war, sie für diese Eitelkeit neben all ihren anderen Sünden zu strafen, dann hatte er die richtige Methode gewählt.
Eine Gruppe heruntergekommener, halb verhungerter Sträflinge fällte Bäume. Der Schmied hämmerte Eisen in seinem Ofen, eine weitere Gruppe von Männern schleppte Steine im Schneckentempo. Sie litten noch mehr als Susan, dennoch glich dies einem Trümmerfeld. Wenn sie verantwortlich gewesen wäre, hätte sie dafür gesorgt, dass die Sträflinge wenigstens Erfahrung in Ackerbau, Hausbau und im Zimmerhandwerk gehabt hätten – doch die Männer in London hatten das alles überhaupt nicht bedacht.
Der Boden rings um die Siedlung war hart wie Eisen und verbog ihre Hacken, das Holz verdrehte die Äxte, die Hitze war erdrückend, Schlangen lauerten überall, und riesige Ameisen bissen zu. Die Eingeborenen hatten alle Angebote, sich in britischer Zivilisation bilden zu lassen, ausgeschlagen und sich strikt geweigert, für die Weißen zu arbeiten, nicht einmal im Tausch gegen Nahrung und Decken. Nun war die Kolonie auf Gedeih und Verderb stinkfaulen Drückebergern ausgeliefert, die eher an Taschendiebstahl und den Verkauf ihres Körpers im Tausch gegen Rum gewohnt waren, als ehrlicher Arbeit nachzugehen. Kein Wunder, dass die Ernten missraten waren.
Susan wandte sich ab und betrachtete die kurz nach ihrer Ankunft errichtete Holzhütte. Sie stand neben der kleinen Holzkirche, die Reverend Johnson bald darauf hatte bauen lassen, und hatte sie vor dem Dauerregen geschützt, der in diesen ersten paar Monaten die meiste Zeit gefallen war. Es war eine Bruchbude.
Der Boden bestand aus festgestampfter Erde, die Fenster hatten Läden, aber keine Verglasung, und in den Wintermonaten pfiff der Wind durch jede Ritze und vertrieb die Wärme, die der schmiedeeiserne Kochherd hergab. Das feine Leinen, das sie mitgebracht hatten, war in der Feuchtigkeit verschimmelt, das meiste Porzellan war auf der Überfahrt zu Bruch gegangen, und Florences Klavier war so verstimmt, dass es sich nicht lohnte, darauf zu spielen. Ihre Möbel waren verrottet oder von Termiten zerfressen, und der Ersatz aus unbehandeltem Holz und Segeltuch war von George und Ernest zusammengezimmert worden, die in den Herausforderungen dieses wilden Landes geradezu schwelgten.
Sie seufzte. Ernest war jetzt siebzehn und hatte Sydney Cove bereits verlassen. Die Regierung hatte jedem von ihnen eine Landparzelle am kürzlich kartographierten Hawkesbury River geschenkt, und er war vor fast einem Jahr selig aufgebrochen, um mit dem Roden und Säen zu beginnen. George würde bald in seine Fußstapfen treten, vermutete sie, denn er war fünfzehn und schmiedete bereits Pläne, was er machen würde, wenn er selbst Land beanspruchen konnte.
»Ein Schiff! Ein Schiff!«
Der Ruf riss sie aus ihren Gedanken, und sie drehte sich rasch zum Wasser um. Ein großes Schiff mit vielen Segeln zog gemächlich an den schmalen Buchten vorbei auf Port Jackson zu. Es fuhr unter englischer Flagge.
Susan hob die Röcke und rannte los. Endlich sollten sie gerettet werden. Endlich gäbe es zu essen und Nachrichten aus der Heimat. Gott hatte das Wunder vollbracht, um das sie und Ezra gebetet hatten. Er hatte sie am Ende doch nicht im Stich gelassen. Auf
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