Träume jenseits des Meeres: Roman
inständig, dass Ernest noch ein wenig bei ihr bleiben wollte. Als George sich im gestreckten Galopp entfernte, stellte sie fest, dass Susan und Ezra wieder ins Haus gegangen waren. Sie waren allein.
»Möchtest du spazieren gehen?«, fragte Ernest, den Hut in der Hand, den Blick auf die Stiefel gerichtet.
Millicent nickte, denn ihr schlug das Herz bis zum Hals, so dass sie nicht sprechen konnte. Sie legte eine Hand auf den ihr dargebotenen Arm, spürte die Wärme seiner Haut unter dem Hemd und fragte sich, wie tief man wohl erröten konnte, bevor man explodierte.
»Komm, wir gehen den Hügel hinunter und sehen uns in der Stadt um. Ich habe nicht oft Gelegenheit dazu, und ich weiß, dass es viele Veränderungen gegeben hat. Was hältst du davon, Millie? Hast du Lust?«
Millicent war enttäuscht, doch da sie ihn nicht abspeisen wollte, nickte sie wieder. Ihr gefiel es da unten nicht. Die Soldaten und Mariner waren ein grober betrunkener Haufen, und in den schmalen Pflasterstraßen und Gassen waren Schlägereien an der Tagesordnung. Sie holte tief Luft und schalt sich im Stillen albern. Die Schrecken des Gefangenenschiffes lagen weit hinter ihr, und Ernest würde dafür sorgen, dass ihr nichts zustieß. Die Hand fest in seine Armbeuge gelegt, entfernte sie sich mit ihm vom Haus.
Nachdem sie ihre Ängste unterdrückt hatte, merkte sie plötzlich, dass ihre Sinne noch nie so wach gewesen waren. Sie konnte die Hitze des Tages in der Erde riechen, und der Duft von Eukalyptus vermischte sich mit dem Holzrauch aus vielen Schornsteinen. Sie spürte die Wärme des Abends und die sehnige Kraft in Ernests Arm – sah, wie die Sterne hoch über ihr am samtweichen Himmel zu funkeln begannen, hörte das Zirpen der Grillen und das Schnattern der Papageien, die an ihre Schlafplätze zurückkehrten. Noch nie war sie so glücklich gewesen.
Sie hatten fast die breite, unbefestigte Straße erreicht, die auf das Stadtzentrum zulief, als Ernest wie angewurzelt stehen blieb. »Millicent«, sagte er hastig, »ich will die Stadt nicht sehen. Eigentlich will ich nicht einmal spazieren gehen.«
Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Dann gehen wir lieber zurück«, sagte sie wehmütig. »Es ist schon spät, und Susan wird sich fragen, wo ich bin.«
»Mutter weiß genau, wo du bist«, sagte er zerstreut, ohne sie direkt anzusehen. »Ich habe mit ihr gesprochen, bevor wir gegangen sind.«
»Oh.«
Er wirkte noch immer zerstreut. Dann holte er tief Luft und sah sie an. »Millicent«, sagte er mit fester Stimme. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich um dich werbe?« Er schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab.
Millicent wurde ganz leicht im Kopf, und sie konnte kaum atmen. »Ich hätte ganz und gar nichts dagegen«, sagte sie und versuchte, nicht über die steife Art zu kichern, in der sie miteinander umgingen.
Seine Augen waren sehr dunkel, als er auf sie herabschaute. »Ist das dein Ernst?«, flüsterte er.
Sie errötete heftig, als sie es wagte, ihn sanft vor die Brust zu stoßen. »Natürlich.«
»Würde es dir viel ausmachen, wenn ich dich küsse?«
Auch er wurde rot, weshalb sie ihn noch mehr liebte. »Nicht so viel«, murmelte sie und hob ihm ihr Gesicht entgegen.
Sie wurde an seiner Brust beinahe zerdrückt, und seine Lippen suchten ihren Mund. Millicent wurde von einem Wirbelwind der Gefühle erfasst, als sie seinen Kuss erwiderte. Der Traum, den sie einst für unmöglich gehalten hatte, war Wirklichkeit geworden. Ernest hatte sie doch bemerkt.
Nell wusste, dass sie bei Susan hätte bleiben können, so lange sie wollte. Doch Billy hatte ihr in den letzten vier Tagen gefehlt, und nun, da sie ihre Geschäfte abgeschlossen und ihre Freundinnen gesehen hatte, konnte sie nicht schnell genug nach Hause kommen.
Sobald sie die Stadt hinter sich gelassen hatte, zog sie die neuen Sachen aus und das lockere fadenscheinige Kleid und den breiten Hut wieder an, die sie tagtäglich trug. Sorgfältig packte sie das Kleid und die zierlichen Schuhe, die sie bei der Party angehabt hatte, in die andere Satteltasche, schlüpfte in die alten, viel praktischeren Stiefel, prüfte, ob das Gewehr geladen war, und stieg wieder in den Sattel. Die Reisetasche mit dem Gewehr hing am Sattelknauf in sicherer Reichweite, falls sie unterwegs Ärger bekommen sollte.
Nell ritt durch die Nacht und hielt nur an, um Amy zu stillen und ihren schmerzenden Rücken zu strecken. Bevor sie Billy geheiratet hatte, hatte sie
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