Träume jenseits des Meeres: Roman
nie auf einem Pferd gesessen, und obwohl sie zunächst misstrauisch gewesen war, hatte sie überrascht festgestellt, wie einfach es ging. Auf jeden Fall war es um Längen besser, als zu Fuß zu gehen.
Der Morgen graute bereits, als sie den letzten Hügel erklommen hatte. Sie ließ das Pferd anhalten, stieg ab und nahm das schlafende Kind aus seiner engen Satteltasche. Mit Amy auf dem Arm schaute sie über das Land, das ihnen vor einem Jahr übertragen worden war. Tiefer Friede überkam sie. In der perlmuttfarbenen Morgenstimmung war es hier wunderschön. Aus den zähen Nebeln der Nacht tauchten allmählich große Waldgebiete auf, und der Parramatta River mäanderte wie ein graues Seidentuch an den gerodeten Feldern und dem sanften Auf und Ab der grünen Weiden vorbei.
Trotz der vielen Stunden Knochenarbeit, der Abgeschiedenheit und Gefahren hier draußen bereute sie nichts. Sie sehnte sich nicht nach dem Stadtleben oder nach England zurück. Da sie im Armenhaus aufgewachsen war, hatte sie nie ein Familienleben gekannt, sondern schon sehr früh lernen müssen, zäh und unabhängig zu sein. Nun, da sie den Ort betrachtete, der zu ihrem ersten echten Zuhause geworden war, wusste sie, dass die vielen Jahre harter Arbeit, die ihnen noch bevorstanden, sich lohnen würden.
Ihr Blick wanderte zu dem winzigen Haus mit zwei Räumen, das die Stelle des alten Zeltes eingenommen hatte. Es war vor einem Monat fertiggestellt worden. Rauchschwaden stiegen aus dem Schornstein, und die frische Farbe auf den Fensterläden glitzerte im Schatten. Wie anheimelnd und sicher es aussah mit seinem schrägen Dach und der breiten Veranda; die stabilen Pfähle waren tief in der schwarzen Erde verankert, auf der ihr zukünftiges Getreide und gutes Gras für die Tiere gedeihen würde.
Weiter unten am Fluss stieg Rauch aus Jacks Schornstein. Sein Haus war noch kleiner. Ein Stück vom Fluss entfernt und hinter den Bäumen fast nicht zu sehen, stand die langgestreckte Hütte für die Sträflinge, die sie inzwischen beschäftigen durften. Die fünf Männer wurden noch aus den öffentlichen Vorräten mit Kleidung und Nahrung versorgt, doch ihre Löhne wurden in Form von Rum gezahlt – eine gefährliche Ware, die auf einen Abend in der Woche zu rationieren war, damit keine Arbeiter ausfielen und sie ihren Rausch am Sonntag ausschlafen konnten. Ihre Arbeit war jedoch von unschätzbarem Wert, wenn es darum ging, Bäume zu fällen, Felder zu pflügen, die Häuser zu bauen und Zäune zu errichten; obwohl sie bezweifelte, dass Rum und Sträflinge eine gute Mischung waren, wusste sie, dass sie ohne diese Männer nicht so viel erreicht hätten.
Noch weiter hinten lag das Lager der Eingeborenen, und durch die Bäume stieg der Rauch vom Lagerfeuer auf. Sie waren letzten Endes recht freundlich gewesen und hatten sogar manchmal im Tausch gegen Tabak und Rum ausgeholfen – doch auch für sie musste der Rum strikt rationiert werden. Sie lachte still in sich hinein, als sie an die Frauen dachte, die oft zum Haus kamen, sich hinstellten, gafften und mit einem Mopp über den Boden wischten. Da sie sich bei ihren Namen die Zunge abbrach, nannte Nell sie Daisy, Pearl und Gladys. Für die Hausarbeit waren sie nutzlos und kamen nur, um mit Amy zu spielen und zu sehen, was in den Regalen zu finden war – doch sie waren die einzige weibliche Gesellschaft, die sie hatte. In dem Bemühen, sie zu unterrichten, hatte sie ihnen jedes Schimpfwort beigebracht, das sie kannte. Der arme Billy war schockiert gewesen, als Daisy ihn »verdammter Scheißkerl« genannt hatte, nachdem er sie gescholten hatte, weil sie Mehl stibitzt hatte.
Nell tauchte aus ihren Tagträumen wieder auf. Sie hielt den Atem an, als sich ein Schwarm weißer Kakadus aufschwang und der aufgehenden Sonne entgegenflog: Ihre Flügel leuchteten hellrot auf. Die Schönheit dieser Gegend, die Stille, die Weite und Pracht rührten sie immer wieder. Wie sich ihr Leben doch verändert hatte – welches Glück, dass sie diese Chance bekommen hatte, mit dem Mann, den sie liebte, einen neuen Anfang zu machen.
»Schau, Amy«, flüsterte sie und hielt das Kind in die Höhe, damit es die Schönheit eines weiteren neuen Tages sah. »Das ist Moonrakers, und das alles gehört dir.«
Amy streckte die rundlichen Ärmchen aus und gurgelte vergnügt, als ein Schwarm schnatternder Wellensittiche vorüberzog.
Nell lächelte zufrieden und drückte einen Kuss in das feuerrote Haar des Kindes. »Und weißt du auch, warum
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