Träume jenseits des Meeres: Roman
sehr von Nutzen.«
Ihre Patriziernase wurde schmal, und den blassen Augen fehlte jede Wärme, als sie ihn betrachteten. »Deine Zeit in London sollte reichen«, sagte sie schließlich. »Dir scheint allerdings die Reife zu fehlen, die Zwänge zu begreifen, die deine Abstammung mit sich bringt.« Unter Spitzenrüschen hob und senkte sich ihre Brust. »Und wie unangemessen es ist, mit den unteren Klassen zu verkehren.«
Jonathan wurde rot. Seine Liebe zu Susan Penhalligan war ein weiterer Quell des Streits zwischen ihnen, und seine Mutter war offensichtlich nicht zu erweichen. Ihm lag bereits eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, als sich sein Onkel einschaltete.
»Liebe Schwester«, dröhnte er. »Du bist zu streng mit dem Jungen. Er ist noch jung und muss sich die Hörner abstoßen. Der Hang zum Küchenpersonal wird bald vergehen.« Er musste den Anflug von Verachtung auf ihrer gepuderten Wange bemerkt haben, denn er fuhr hastig fort: »Jedenfalls wird es dem Anwesen nicht schaden, wenn man dem Jungen erlaubt, eine Zeitlang abzutauchen.«
Augenblicklich war Jonathans Interesse geweckt. Er hatte längst den Verdacht, dass dieser flüchtige Besuch einen Zweck hatte, und jetzt wusste er, dass der Alte etwas im Schilde führte.
Clarissa kniff missbilligend die Lippen zusammen. Ihre unter der kunstvollen Perücke streng gezupften Augenbrauen fuhren entsetzt in die Höhe. »Abtauchen? Warum sollte er abtauchen müssen?«
Josiah scharrte mit den Füßen, räusperte sich und riskierte erneut, ihr fest in die Augen zu sehen. »Ich habe einen Vorschlag, meine Liebe«, hob er an. Er warf Jonathan einen Blick zu. »Auch wenn ich nicht gerade die Aufregung und das Abenteuer bieten kann, nach dieser schwer zu fassenden Terra Australis zu suchen, so kann ich doch eine einmalige Gelegenheit in Aussicht stellen.«
Jonathan spannte sich an. Seine Phantasie trug ihn weit hinaus aus diesem stickigen Raum und weg von der Missbilligung seiner Mutter.
»Du sprichst in Rätseln«, sagte diese spitz.
»Als geachteter Astronom und Mitglied der Königlich Geographischen Gesellschaft hat man mich gebeten, an der Expedition nach Tahiti teilzunehmen, um den Durchgang der Venus vor der Sonne zu beobachten. Ich möchte, dass Jonathan mich begleitet.«
Jonathan blieb fast das Herz stehen. Tahiti! Noch dazu die Chance, über die Meere zu segeln, ungehindert von den Einengungen des Lebens hier in England – das wäre die Erfüllung seiner kühnsten Träume. Er betrachtete das Gesicht seiner Mutter und versuchte, sie kraft seines Willens zu ihrem Einverständnis zu zwingen.
»Soll das eine Bildungsreise sein?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte Josiah, ihrem Blick ausweichend.
»Wird es gefährlich sein?«
Die Spannung war kaum zu ertragen. Jonathan musste sich auf den Fensterplatz setzen, um seine zitternden Gliedmaßen zu beruhigen, während sein Onkel den Zweck der Reise erklärte. Die Bedeutung einer Sonnenfinsternis konnte seine Mutter sowieso nicht ermessen, doch wenn jemand sie überreden konnte, ihr Einverständnis zu geben, dann war es Josiah.
»Du möchtest, dass der Junge eine reife Vorstellung von seinem Platz in der Welt entwickelt, Clarissa«, tönte Josiah. »Als sein Onkel und Vormund werde ich die volle Verantwortung für ihn übernehmen und dafür sorgen, dass er nicht zu Schaden kommt.« Er klopfte seine Pfeife am Kamin aus. »Du hast mir erlaubt, mich jahrelang um seine Erziehung zu kümmern. Gestatte mir, meine Patenschaft fortzusetzen und ihn dir als gemachten Mann zurückzubringen, der bereit ist, seine Pflichten hier zu erfüllen.«
Jonathan konnte beinahe die Gedanken seiner Mutter lesen. Als junge Witwe war Clarissa mit der Erziehung eines Sohnes schlichtweg überfordert gewesen und hatte ihn Kinderschwestern und Kindermädchen überlassen, bis er alt genug gewesen war, um zu Josiah nach London zu gehen. Sie war ihrem Bruder für seine Hilfe so dankbar, dass sie ihm kaum etwas abschlagen konnte. Außerdem war da noch die zu erwartende Komplikation wegen Jonathans Liebe zu Susan Penhalligan. Ganz offensichtlich war seine Mutter hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, die Leitung des Anwesens ihrem Sohn zu übergeben, und der Hoffnung, dass die Zeit und die Entfernung der unpassenden Romanze ein Ende setzen würden.
Ihr Blick wanderte quer durch den Raum zu ihrem Sohn. Clarissa Cadwallader hatte dem verstorbenen Earl einen Erben geschenkt und damit ihre Pflicht als erfüllt betrachtet. Sie liebte ihren Sohn
Weitere Kostenlose Bücher