Träume jenseits des Meeres: Roman
Temperament. Nell hatte sich an ihn gehängt, und sie hatten festgestellt, dass sie geistesverwandt waren. Nell war eine Kämpferin und wollte niemals aufgeben, solange sie noch atmete, und ihre Energie und Entschlossenheit hielten ihn davon ab, wahnsinnig zu werden. Er hatte noch nicht mit ihr geschlafen, doch die Zeit würde kommen, dessen war er sicher.
Er trat einen Schritt vom Pfahl zurück, um zu prüfen, ob er die richtige Höhe hatte, und schlurfte durch das Wasser zum nächsten. Er schaute zur Dunkirk hinüber und verzog das Gesicht. Die alte Fregatte lag eingebettet im Schlamm vor Plymouth, ihre Planken verrotteten, der Gestank aus den Sträflingszellen schwebte über dem Wasser. In den letzten zwölf Monaten war sie sein Zuhause gewesen, nachdem die Chatham auseinandergebrochen und gesunken war. Wäre der Krieg in Amerika nicht gewesen, wäre er längst nicht mehr hier und würde wahrscheinlich als Leiharbeiter auf den Baumwollfeldern irgendeiner Plantage arbeiten. Dort hätte die Aussicht auf Flucht bestanden oder darauf, sich einen Straferlass zu verdienen, wohingegen es hier nur Elend gab – jeder Tag zog sich endlos hin. Nacht für Nacht lag er im Halbschlaf, auf der Hut vor Überfällen und vor den Ratten, die über ihn hinwegkrochen. Dem Himmel sei Dank für Nell und ihr unbändiges Lachen, ihre zweideutigen Witze und ihre scheinbar grenzenlose Energie.
Das Licht wurde schwächer. Bald würde man sie in die kleinen Boote sammeln und zurück zum Schiff bringen. Tief atmete er die warme Salzluft ein und ließ die Muskeln auf seinem noch immer kräftigen Rücken und den Schultern spielen. Er war erschöpft, und jeder Muskel tat weh, doch er freute sich nicht auf den fauligen Gestank der Sträflingsquartiere und die kreischenden Dirnen, die den Seeleuten ihre Dienste im Tausch gegen zusätzliche Rationen feilboten. Eigentlich wollte er nur nach Mousehole und nach Hause zurück – zu dem Duft nach gebratenem Fisch, frisch gebackenem Brot und dem leichten Nuscheln des kornischen Dialekts. Er trauerte der Freiheit nach, die er auf seiner Suche nach Reichtum verspielt hatte.
»Zurücktreten. Zurücktreten.« Der Ruf setzte sich in der Reihe fort, und der Wärter half bei jedem Mann einzeln mit seinem Holzstab nach. »Besuch kommt. Ich habe dich im Blick, Penhalligan – eine Bewegung, und ich lass dich in Ketten legen.«
Billy trat zurück, bis er sich an den Pfahl lehnen konnte, den er gerade tief in den Schlamm der Flussmündung gerammt hatte. Er hatte sich an die Neugierigen gewöhnt, die sich Boote mieteten und hinausruderten, um die Sträflinge zu besichtigen, die Nase rümpften und Maulaffen feilhielten. Die Frauen waren am schlimmsten. Sie drückten ihr Taschentuch an die Nase, aber ihre Blicke waren lüstern und heiß, wenn sie über die halbnackten Körper der Männer glitten. Sie kicherten und riefen sich hinter ihren Fächern etwas zu, als wären die Gegenstände ihrer Bewunderung taub oder gar tot.
Er hustete und spuckte den Schleim ins Wasser, während er streitlustig dem kleinen Boot entgegensah, das sich rasch näherte. Die Miststücke sollten eine Nacht hier draußen versuchen, sie würden schon bald feststellen, dass die Männer, die sie verhöhnten und begehrten, von einem Augenblick zum nächsten zu Wilden wurden, wenn sich ihnen nur die kleinste Gelegenheit bot.
Das Boot war die Flussmündung heraufgekommen und lag nun fast am Ende des Piers, den die Männer bauten. Der Verantwortliche war in eine Unterhaltung mit dem Kerkermeister Mr. Cowdry vertieft.
»William Penhalligan?«
Billy wurde aus seinen finsteren Gedanken gerissen und hob ruckartig den Kopf. »Ja?«
»Besuch für dich. Komm her.«
Alfred Mullins versetzte ihm einen Stoß, der ihn beinahe umwarf. »Los, beweg dich«, brüllte er.
Billy zog die bloßen Füße durch den Schlamm, der an seinen Beinen haften blieb. Er hielt den Mund.
»Aha, da bist du ja, Penhalligan. Nun mach schon, da ist ein netter Kerl. Wichtiger Besuch für dich.«
Billy warf einen wütenden Blick auf Cowdry, der wie ein ausgestopfter Täuberich auf dem Kai stand. Dann wandte er sich dem Besucher zu. Er runzelte die Stirn. Der Mann trug eine Uniform, was nur Ärger bedeuten konnte. Er grub die Zehen in den Schlamm und senkte den Kopf.
»Billy, ich bin im Auftrag deiner Familie hier.« Eine Pause trat ein, Billy hob den Kopf und schaute ihn direkt an. »Ich bin Feldmarschall Collinson von den Dragonern Seiner Majestät.«
»Was ist mit
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