Traeume Suess, Mein Maedchen
Wenn es sein muss, bringe ich dich um, dachte sie, als sie den uniformierten Fremden sah. Ich bringe dich um, bevor ich zulasse, dass man mir meinen Sohn wegnimmt.
»Päckchen«, verkündete ein junger Mann mit einer großen Lücke zwischen den Schneidezähnen nonchalant. »Es hat nicht durch den Briefschlitz gepasst.« Emma stieß die
Fliegengittertür auf, und der Mann, den sie jetzt als den Postboten erkannte, drückte ihr zusammen mit ihrer normalen Post einen großen Umschlag in die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und sprang die Treppe zum Bürgersteig hinunter. Sie schloss eilig die Tür, riss den wattierten Umschlag auf und zog einen allem Anschein nach sehr langen, ordentlich in zweizeiligem Abstand getippten Brief heraus. Von wem, fragte sie sich, und der Umhang der Furcht legte sich erneut um ihre Schultern, als sie bis zur letzten Seite vorblätterte. Aber statt einer Unterschrift fand sie nur das Wort ENDE. »Was geht hier vor?«, fragte sie sich und blätterte wieder zur ersten Seite. Der Brief begann:
Sehr geehrte Ms. Rogers, vielen Dank für die Einsendung der Geschichte »Die letzte Überlebende«. Wir fanden sie unterhaltsam und gut geschrieben, sind jedoch der Ansicht, dass sie nicht die passende Lektüre für die Leserinnen der Zeitschrift »Woman’s Own« darstellt. Wir wünschen Ihnen viel Glück für eine Veröffentlichung in einem anderen Magazin und hoffen, dass Sie auch in Zukunft an uns denken werden. Mit freundlichen Grüßen...
Was zum Teufel ist das, fragte Emma sich und begriff im selben Moment, dass der Postbote den Umschlag an die falsche Adresse zugestellt hatte. Bei Licht betrachtet war die gesamte Post nicht für sie, sondern für eine Ms. Lily Rogers in der Mad River Road 113. 113, nicht 131. Emma wusste, wer Lily Rogers war. Sie wohnte neun Häuser weiter am Ende der Straße und winkte Emma jedes Mal zu, wenn sie sie sah. Sie hatte auch schon mehrfach versucht, ein Gespräch anzuknüpfen, aber Emma hatte sie immer abgebürstet und war davongeeilt. »Warten Sie«, rief sie, stieß beide Türen auf und sah sich nach dem Postboten um. Aber er war schon um die nächste Straßenecke verschwunden, und sie hatte nicht
vor, ihm hinterherzurennen. Sie würde Lily Rogers die Post heute Nachmittag vorbeibringen, wenn sie ihren Sohn von der Schule abholte. Es drängte schließlich nicht. Niemand hatte es eilig, eine Ablehnung zu bekommen.
Emma hob den Absagebrief an, um einen Blick auf die Geschichte darunter zu werfen. »Die letzte Überlebende«, las sie. Von Lily Rogers.
Pauline Brody dachte an Lakritzstangen. Die langen, gewundenen, roten, die eigentlich gar nicht aus Lakritz waren, wie ihre Schwester ihr immer erklärt hatte, sondern aus irgendeinem Plastik mit einem schrecklichen roten Farbstoff, von dem sie Krebs bekommen würde, wenn sie groß war.
Igitt, dachte Emma, schob den Packen Papier wieder in den Umschlag und warf Lilys Post auf den Boden, als sie die Zeitung aufhob und mit in die Küche auf der Rückseite des Hauses nahm. Sonnenschein fiel durch das große Fenster über dem Waschbecken auf die glatte Kunststoffarbeitsplatte zwischen dem kleinen weißen Kühlschrank und dem Herd. Es gab weder eine Spülmaschine noch eine Mikrowelle und auch keinen schicken Grill, wofür Emma beinahe dankbar war. Sie brauchte all diese Dinge nicht. Während ihrer Ehe mit Dylans Vater hatte sie sie besessen, und sie vermisste sie nicht. Solange sie ihre Kaffeemaschine hatte, war sie glücklich. Sie spülte einen Becher aus und goss sich frischen Kaffee aus der Kanne ein, den sie am Morgen gekocht hatte. Na ja, vielleicht doch nicht so frisch, dachte sie, als sie einen großen Schluck trank, sich an den Küchentisch setzte und die Stellenanzeigen aufschlug. Genug gefaulenzt, sie brauchte einen Job.
Emma lehnte sich stöhnend auf dem Stuhl zurück und streckte die Hand nach der Schublade neben der Spüle aus. Sie konnte das nicht allein. Sie brauchte Verstärkung. Und
die lag ganz hinten in der Schublade zwischen Geschirrtüchern und Putzlappen bereit: eine Packung Salems samt einem Streichholzbriefchen. Apropos Dinge, von denen man Krebs bekam, wenn man groß war, dachte Emma und zog eine Zigarette aus der Schachtel. Sie zündete sie an, inhalierte tief und schloss die Augen. Sie konnte sich schließlich nicht über alles Sorgen machen, und um ehrlich zu sein, rauchte Emma einfach gern. Sie liebte alles daran - den Geschmack von Tabak auf der Zunge, das schleichende Brennen bis in den
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