Traeume Suess, Mein Maedchen
musste tief durchatmen und alles in Ruhe überlegen.
»Ich nehme das mal als Nein«, sagte Brad und küsste sie sanft auf den Mund.
Worüber machte sie sich Sorgen, fragte sie sich und verwarf ihre kleinmütigen Zweifel. »Wo denn in Ohio?«, fragte sie ihn.
»Dayton«, erklärte er ihr und strahlte sie mit seinem wunderbaren Lächeln an. »Eine Straße namens Mad River Road.«
4
Das zweistöckige Holzhaus in der Mad River Road 131 sah genauso aus wie alle anderen Häuser in der Straße: alt und ein wenig heruntergekommen. Die graue Farbe blätterte von den Mauern, und die vormals weißen Fensterläden, die die vier Fenster zur Straße rahmten, waren fleckig und hingen bedrohlich schief in den Angeln. Die Läden vor dem Schlafzimmerfenster mit ihrer jahrealten Schmutzschicht waren besonders marode und hielten sich nur noch mit knapper Not. Genau wie ich, dachte Emma und atmete die kühle Morgenluft ein, bevor sie widerwillig die sechs wackeligen Stufen zum Haus hinaufstieg. Auf der winzigen Veranda vor der zerrissenen Fliegengittertür blieb sie stehen. Dahinter befand sich eine weitere Tür, massiv mit schwarzem Anstrich, obwohl die Farbe verblasst und die Oberfläche verkratzt war. Jenseits der Schwelle fanden sich überall weitere Zeichen des Niedergangs und Zerfalls. Das alte Haus hatte definitiv schon bessere Tage gesehen. Emma zuckte die Achseln. Wer nicht? Und was erwartete sie außerdem für die Miete, die sie bezahlte?
Die komplette Straße war vor mehreren Jahren von einer Immobiliengesellschaft aufgekauft worden, die die bestehenden Häuser abreißen und durch eine Reihe teurer Stadthäuser ersetzen wollte. Stadtentwicklung, nannte man das, nur dass jemand im Stadtrat Widerspruch eingelegt hatte, sodass das Projekt auf Eis lag und in einem Sumpf scheinbar endloser juristischer Auseinandersetzungen feststeckte. Die Immobiliengesellschaft hoffte auf eine für alle Seiten zufrieden stellende Einigung und vermietete die Häuser einstweilen
auf monatlicher Basis. Mit dem Ergebnis, dass die Mad River Road eine Art Zufluchtstätte für Frauen geworden war, deren Leben sich im Umbruch befand; Frauen mit trüber Vergangenheit, ungewisser Zukunft und festgefahrener Gegenwart, darunter kaum überraschend eine Reihe alleinerziehender Mütter mit ihrem Nachwuchs. Als Emma und ihr kleiner Sohn in die Stadt gekommen waren und eine billige Bleibe in einem sicheren Viertel gesucht hatten, hatte der Makler nur kurz überlegt, bevor er sie in die Mad River Road geschickt hatte. Gut, die Häuser waren nicht in erstklassigem Zustand, und der Mietvertrag konnte jederzeit mit nur zwei Monaten Frist gekündigt werden, aber die Bewohner der Straße hatten viel Mühe darauf verwendet, ihre Umgebung zu verschönern, indem sie die Vorgärten mit Blumen bepflanzt und die Fassaden ihrer Häuser in interessanten Pastellfarben gestrichen hatten. Und wo in der Stadt hätte man sonst ein Haus mit zwei Schlafzimmern zu diesem Preis mieten können? »Es ist ein charmantes kleines Haus«, hatte der Makler erklärt, »mit jeder Menge Möglichkeiten.«
Mit der Möglichkeit eines Neuanfangs, hatte Emma damals für sich gedacht. Das bisschen Bargeld, das sie vor ihrem Exmann hatte verstecken können, hatte sie in einem Wahnsinnstempo ausgegeben. Bald war nichts mehr übrig gewesen.
Sie strich sich ihre schulterlangen dunklen Haare hinter das rechte Ohr und lauschte dem Zwitschern der Vögel in den Bäumen. Was für Vögel und was für Bäume, fragte sie sich abwesend. Sie sollte eigentlich wissen, ob es Drosseln, Blauhäher oder Finken waren, die ihr Morgenlied anstimmten, wenn sie ihren Sohn zur Schule brachte. Sie sollte wissen, ob es Ahornbäume, Eichen oder Ulmen waren, die die lange Straße säumten und dunkle Schatten auf ihren kleinen Vorgarten warfen. So etwas sollte sie wissen, genau wie die Namen der Blumen - Anemone, Arnika, Akelei? -, die die
alte Mrs. Discala vor kurzem vor ihrem Haus am Bürgersteig entlang gepflanzt hatte. Emma fischte den Hausschlüssel aus der Seitentasche ihrer Jeans, zog die Fliegengittertür auf und öffnete die Haustür. Beide Türen quietschten protestierend. Wahrscheinlich müssen sie geölt werden, dachte sie und fragte sich gedankenverloren, welches Öl man dafür eigentlich benutzte. Tierisch, pflanzlich, mineralisch?
Die Luft im Haus war stickig, aber Emma verwarf den Gedanken, ein Fenster zu öffnen. Die Temperatur passte ganz gut zu ihrer lethargischen bis depressiven Stimmung. Heute
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