Traeume Suess, Mein Maedchen
»Nummer 113.«
5
Jamie starrte aus dem Beifahrerfenster ihres Wagens, der auf dem Florida Turnpike nach Norden fuhr, und fragte sich, ob sie wohl völlig den Verstand verloren hatte. Sie hatte nicht nur ihren Job gekündigt und ihre Schwester vor den Kopf gestoßen, sondern auch den Schlüssel für ihren geliebten Thunderbird einem Mann ausgehändigt, den sie kaum kannte, und trotzdem hatte sie seit Beginn ihrer Reise vor beinahe drei Stunden nicht aufgehört zu lächeln. Und das, obwohl es entlang dieses langen und langweiligen Autobahnabschnitts absolut nichts Interessantes zu sehen gab und auch die endlose Folge von Reklametafeln für Yeehaw sie längst nicht mehr amüsierte, eine Stadt, deren Haupterwerbsquelle offenbar aus dem Verkauf von Discounttickets für Disneyworld und die Universal Studios bestand. MI-CKEY SEHEN ZUM MINNIE-PREIS, verkündete eins der Plakate stolz, ein paar Meter weiter hieß es nur BABY! Es folgten kurz hintereinander: VERLOCKENDE - SUPERAN-GEBOTE - IN YEEHAW. Jamie hatte den Eindruck, dass alle Reklametafeln nebeneinander gelegt wahrscheinlich eine größere Fläche bedecken würden als die kleine Stadt Yeehaw selbst.
Dazwischengestreut waren zahlreiche Werbetafeln für Orangensaft aus Florida - FÜR IHRE GESUNDHEIT - Bush Gardens, Sea World, diverse Naturschutzparks und eine Bequemlichkeit des modernen Lebens, die sich Sun Pass nannte und es einem erlaubte, durch alle Mautstellen auf der Strecke zu fahren, ohne sich in der Schlange einreihen zu müssen. ALTER WAGEN / NICHT PROMINENT
/ TROTZDEM BEKOMMT ER/ DAS VIP-TREATMENT, lautete die frohe Kunde auf vier aufeinander folgenden Plakaten. Des Weiteren gab es Werbetafeln, die die Botschaften diverser Interessengruppen in die Welt posaunten. Eine Tafel drängte die Fahrer: WÄHLE DAS LEBEN. Bevor ein weiteres Plakat wenige Meter weiter fragte: BIST DU NICHT FROH, DASS DEINE MUTTER ES GETAN HAT? Und wieder ein Stück weiter warnte eine andere Tafel: DIE UNO WILL EUCH EURE WAFFEN WEGNEHMEN.
Typisch Florida, dachte Jamie und beobachtete, wie die Beifahrerin des Cabriolets vor ihnen ihre langen braunen Beine in die Luft streckte und auf das Armaturenbrett legte, sodass man eine Reihe bunt bemalter Zehennägel bewundern konnte. Viele, viele, bunte Smarties, dachte Jamie und widmete ihre Aufmerksamkeit den zahlreichen personalisierten Nummernschildern eitler Fahrzeughalter, die an ihnen vorbeiglitten - LA GUTS, IWAIT4YOU, I-AM-NR-1 -, sowie den allgegenwärtigen Aufklebern stolzer Eltern und ihres akademische Ehren anstrebenden Nachwuchses. Auf dem überdimensionierten Kofferraum eines alten weißen Lincoln Continental prangte die schwarze Aufschrift: SIE IST EIN KIND UND KEINE WAHL, während ein Plakat im Heckfenster eines Dodge Caravan verkündete: SCHWERKRAFT ZIEHT ECHT RUNTER. Jamies persönlicher Favorit war jedoch ein gemaltes Schild im Rückfenster einer knallgelben Corvette, die die anderen Fahrer ermahnte: RETTE EIN PFERD, REITE EINEN COWBOY. Jamie schloss die Augen und merkte, dass sie vom ständigen Blinzeln in die helle Sonne Kopfschmerzen bekam. Eingelullt von den hypnotischen Refrains der Countrysongs im Radio, die unweigerlich von gebrochenem Herzen, heftigem Trinken und dergleichen handelten, wäre sie fast eingeschlafen, als ein Zwicken in der Blase sie daran erinnerte, dass sie seit Verlassen ihrer Wohnung nicht mehr auf der Toilette gewesen war.
Es war erst die dritte Stunde ihrer langen Reise, aber sie hatte schon Kopfschmerzen und fühlte sich müde und unwohl.
Trotzdem konnte sie sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so aufgeregt gewesen war.
»Worüber lächelst du?«, fragte Brad und lächelte selbst.
Jamie schlug lachend die Augen auf. »Ich kann einfach nicht glauben, wie gut ich mich fühle.«
Brad nahm seine rechte Hand vom Steuer und streichelte ihren nackten Oberschenkel. »Und wie gut du dich anfühlst.«
Jamie wurde rot und blickte zu dem schwarzen Jaguar in der Spur neben ihr. Seit etlichen Kilometern überholten sich die beiden Wagen immer wieder abwechselnd. Das Nummernschild des Jaguars lautete: HOT DOC. Jamie fragte sich, ob der Mann hinterm Steuer ein viel beschäftigter Arzt oder gefragter Dokumentarfilmer war. Vielleicht auch ein gut aussehender Tierarzt oder ein Zahnarzt, der sich für etwas Besseres hielt. Sie fragte sich, ob er Brads Hand sehen konnte, die sich unter das Bein ihrer Shorts geschoben hatte. Aber der HOT DOC starrte stur geradeaus, scheinbar gebannt vom dichten
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