Traeume Suess, Mein Maedchen
das Baby von Rachel aus Friends, hatte sie erläutert und ob er nicht auch fände, dass ihr neuer Name viel besser zu ihr passte als ihr alter. Er müsse gut aufpassen, ermahnte sie ihn regelmäßig, in Gegenwart von Fremden keinen Fehler zu machen und seinen alten Namen zu benutzen. Es sei sehr wichtig, schärfte sie ihm ein, ohne zu erklären, warum. Sie konnte ihm schließlich schlecht die Wahrheit über seinen Vater sagen. Er war noch zu jung, um es zu verstehen. Wenn sie wieder umziehen musste, würde sie ihn seinen Namen vielleicht selber aussuchen lassen.
Emma drehte sich vom Rücken auf die Seite, schlug die Augen auf und sah aus dem Fenster. Kleine Wolkenfetzen trieben an einem blauen, unbesorgten Himmel dahin. Der Ast eines Baumes, an dem vor kurzem Blätter gesprossen waren, wehte in Richtung Fenster. Für Mai war es kühl, die Luft noch feucht, als ob Regen drohte, was sie hasste. Emma nahm das Wetter sehr persönlich, obwohl sie wusste, dass
das Unsinn war. Aber musste es deswegen die meiste Zeit so verdammt ungemütlich sein? Sie war an einem Ort mit Sonne und Wärme aufgewachsen, und vielleicht konnte sie eines Tages dorthin zurückgehen.
In der Zwischenzeit saß sie hier in der Mad River Road fest. Noch einen Monat, dann war die Schule vorbei. Was sollte sie dann mit Dylan machen? Selbst wenn sie das Geld gehabt hätte, ihn in ein Sommerferienlager zu schicken, würde er wohl kaum fahren. Und sie konnte ihn schließlich nicht zwei Monate lang mit zur Arbeit nehmen. Wie konnte sie da auch nur darüber nachdenken, sich einen Job zu suchen? Vielleicht konnte sie die alte Mrs. Discala überreden, auf ihn aufzupassen. Dylan mochte sie. Er sagte, sie erinnerte ihn an seine Nana.
Das war alles ihre Schuld, dachte Emma, während der Schlaf an ihren Lidern zupfte. Sie war der Grund, warum ihr Sohn so ängstlich war. Wenn sie nicht bald etwas unternahm, würden sie beide verrückt werden. Wirklich Mad River Road.
Sie sank in einen benommenen Halbschlaf, in dem sich Fantasie und Realität vermischten und seltsame Bilder zusammen mit tatsächlichen Ereignissen in ihr Bewusstsein trieben. In einer Minute packte sie panisch ihre Sachen und floh aus dem Haus, in der nächsten tauchte sie in einen reißenden Fluss. Vertraute Gesichter reihten sich an einem unbekannten Ufer, sie riefen ihr verschiedene Namen zu, warfen mit Stöcken und stampften mit den Füßen auf, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Einige hieben mit den Fäusten in die Luft, als wollten sie eine schwere Tür einschlagen.
Jemand war an der Tür, wurde Emma bewusst, als das Pochen lauter wurde. Wer ist das, fragte sie sich, beinahe zu erschrocken, um sich zu rühren. Sie erwartete niemanden, und es war auch nicht so, dass ihre Nachbarn die Angewohnheit hatten, uneingeladen vorbeizuschauen. In den paar Monaten, die sie jetzt in der Mad River Road wohnte, hatte sie
sich auch nicht um Freundschaften bemüht und die höflichen Gesprächsbemühungen der anderen alleinerziehenden Mütter in der Straße abgewehrt. Es war besser so. Es hatte keinen Sinn, sich auf andere Menschen einzulassen, solange sie sich selbst auf so dünnem Eis befand, solange ein überraschender Anruf oder eine Zufallsbegegnung sie mitten in der Nacht erneut zur Flucht trieb. War es da wirklich überraschend, dass diese Haltung auf ihren Sohn abgefärbt hatte? Dylans Lehrerin Miss Kensit hatte häufig beklagt, dass er keine Freundschaften schloss. War sie es, die unten an die Tür klopfte? Wollte sie Emma mitteilen, dass ihrem Sohn etwas Schreckliches zugestoßen war? Hatte irgendjemand ihn verschleppt?
Emma fuhr im Bett hoch und versuchte, die Panik abzuschütteln, die ihren ganzen Körper erfasst hatte, doch der Schreck blieb ihr in den Gliedern stecken wie eine hartnäckige Erkältung.
Hatte er sie gefunden?
Sie sah auf die Uhr, stieß sich vom Bett ab und ging in den Flur. Sie hatte fast eine halbe Stunde geschlafen. War es möglich, dass sich ihre Welt in einer halben Stunde, in jenen dreißig Minuten Schutzlosigkeit, die sie sich erlaubt hatte, ein weiteres Mal und für immer verändert hatte? Alles ohne ihr Wissen und auf jeden Fall ohne ihre Zustimmung? »Ich will das nicht«, sagte sie, während sie sich an der Wand abstützend und schweißige Fingerabdrücke der Angst hinterlassend Stufe für Stufe die Treppe hinunterschlich. »Ich akzeptiere das nicht.« Emma atmete tief ein und hielt die Luft an, bevor sie die Haustür aufriss und durch das Fliegengitter starrte.
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