Traeume Suess, Mein Maedchen
Bemühen, den fensterlosen Raum ein wenig aufzuhellen, vor den Spiegel hinter den beiden Waschbecken eine Coca-Cola-Flasche mit einer Plastikblume gestellt. Wahrscheinlich dieselbe Person, die den Spiegel flüchtig abgewischt hatte, sodass das Glas jetzt von einer Reihe kunstvoller Wischer in ungleiche Flächen unterteilt war.
Jamie öffnete die erste der beiden Kabinen, legte ihr Portemonnaie und die Plastiktüte auf den Boden und ließ ihre Shorts herunter, obwohl die Stimme ihrer Schwester sie ermahnte, sich nicht auf den Toilettensitz zu setzen. Geh in die Hocke, wies Cynthia sie an.
Oder wisch wenigstens die Brille mit Toilettenpapier ab, drängte ihre Mutter.
Als Reaktion setzte sie sich einfach auf die Klobrille, ließ den Kopf in die Hände sinken und kämpfte mit den Tränen. »Was mache ich bloß? Was ist mit mir los?«
So blieb sie sitzen, auch lange nachdem sie fertig war, und blickte erst auf, als sie hörte, dass jemand hereinkam. Danach war es still. Keine Schritte, kein laufendes Wasser, die
Tür zur Nachbarkabine wurde nicht geöffnet. Man hörte nur den regelmäßigen Atem eines anderen Menschen.
Es hörte sich an, als ob jemand wartete.
»Brad?«, fragte Jamie hoffnungsvoll. »Bist du das?«
Weiterhin kein Mucks.
Jamie zerrte ihre Shorts hoch und versuchte, durch einen Spalt in der Tür zu spähen, aber sie sah nur einen Streifen des Spiegels gegenüber und etwas Schwarzes, das sich darin spiegelte. Sie hielt die Luft an, als das Atmen vor ihrer Kabine lauter und abgerissener wurde. Unter der Kabinentür schlurften zwei zerfetzte und nicht zueinander passende Turnschuhe ins Bild. Der Penner vom Supermarkt war ihr hierher gefolgt. Er stand direkt vor ihrer Kabine und wartete, dass sie herauskam. Warum? Was hatte er vor?
Jamie blickte sich panisch um und überlegte, was sie tun konnte. Am sichersten war es vermutlich, gar nichts zu tun - einfach hocken bleiben und den Fremden aussitzen. Irgendwann musste schließlich jemand die Toilette benutzen. Oder sie konnte laut schreien und hoffen, dass sie bei dem Verkehrslärm irgendwer hörte. Vielleicht würden die Schreie zumindest den Mann in die Flucht treiben. Oder ihn zur Tat provozieren, wie ihr bewusst wurde. Vielleicht sollte sie die Flucht wagen. Obwohl Jamie den Mann nur mit einem Blick gestreift hatte, hatte sie den Eindruck, dass er nur mittelgroß und wahrscheinlich ein bisschen schwachsinnig war. Genau wie ich, dachte sie und hätte vielleicht sogar laut gelacht, wenn sie nicht solche Angst gehabt hätte. Sie setzte sich wieder auf die Klobrille und beschloss, den Eindringling auszusitzen. Aber eine Sekunde später war sie wieder auf den Beinen. Was, wenn der Penner versuchte, die Tür aufzubrechen? Ein kräftiger Stoß würde wahrscheinlich reichen. Oder er konnte versuchen darüberzuklettern.
Jamies Blick schoss zur Oberkante der Tür. Sie wappnete sich gegen den Anblick irrer Augen und eines unheimlichen zahnlosen Grinsens, aber die zerrissenen, nicht zueinander
passenden Turnschuhe blieben fest auf dem Boden vor der Tür stehen. Gütiger Gott, was sollte sie bloß machen?
Jamie streckte instinktiv die Hand nach der Plastiktüte zu ihren Füßen aus. Mit ihrem Portemonnaie würde sie niemandem ernsthaften Schaden zufügen können, aber zwei Dosen Cola könnten vielleicht etwas ausrichten. Vorausgesetzt, sie konnte weit genug ausholen und auf den Kopf des Mannes zielen, bevor er sie überwältigte.
Bitte, hilf mir, irgendjemand, betete sie, hörte ein Wimmern und begriff, dass sie das war. Bitte. Gott. Lass ihn einfach weggehen. Ich verspreche, dass ich nie wieder etwas Dummes tun werde. Ich werde auf meine Schwester hören, nicht mit verheirateten Männern schlafen und keine Fremden in Kneipen aufgabeln. Ich suche mir einen neuen Job und bleibe dabei, egal wie langweilig er ist. Ich werde mich sogar bei Lorraine Starkey entschuldigen, wenn du mich nur aus diesem Schlamassel rausholst.
Und dann zogen die Schuhe sich plötzlich zurück. Die Außentür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Jamie begriff, dass der Mann weg war und hielt sich vor Erleichterung den Magen. »Loslassen und Gott walten lassen«, flüsterte sie dankbar, bevor sie, das Portemonnaie in der einen, die Plastiktüte in der anderen Hand, vorsichtig die Kabinentür aufstieß.
Es war niemand da.
In der Mitte des stickigen Raumes blieb sie stehen und wartete, bis ihr Atem sich beruhigt hatte. War es möglich, dass sie sich das alles nur eingebildet
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