Traeume Suess, Mein Maedchen
er stolz wie jeden Abend.
Emma schob ihn mit einem liebevollen Klaps auf seinen kleinen Hintern aus der Tür und folgte ihm in sein Zimmer, wo sie zusah, wie er zwei Mal das Fußbrett seines schmalen Bettes berührte, bevor er unter die Decke schlüpfte und über seinen Kopf griff, um an die Wand zu klopfen. Vergewisserte er sich, dass sie noch da war? Suchte er nach etwas von Dauer und Beständigkeit, so gering es auch sein mochte? Und war sie verantwortlich für dieses irrationale Verhalten, fragte sie sich in ihrem eigenen abendlichen Ritual.
Nun, sie hatte seinen Namen geändert und ihm erklärt, dass Fremde ihn ihr wegnehmen könnten, erinnerte sie sich und schüttelte bedauernd den Kopf, als Dylan das Radio neben dem Bett einschaltete. Trotzdem konnte man nicht ihr die Schuld für ihre momentane Situation geben. Ja, ihr Lebensstandard war krass gesunken, und ja, sie war häufig angespannt und deprimiert, aber sie liebte ihren Sohn mehr als ihr Leben, und sie hoffte, dass er eines Tages verstehen würde, warum sie ihn bei Nacht und Nebel von allem hatte wegbringen müssen, was ihm lieb und vertraut war. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Auch ich habe Albträume, wollte sie ihm erklären, doch stattdessen sagte sie: »Gute Nacht, mein Schatz.« Sie strich ihm durchs Haar. »Schlaf schön.«
»Erzähl mir eine Geschichte.«
Das war ein neuer Trick, dachte Emma, vollkommen unerwartet. Er spürte, dass irgendwas anders war, dachte sie, sah auf die Uhr, stellte fest, dass es fast halb acht war, und fragte sich, wo Mrs. Discala blieb. »Ich kenne keine Geschichten«, erklärte sie ihm wahrheitsgemäß.
»Daddy kannte jede Menge Geschichten.«
Emma erstarrte. »Ich weiß, Schätzchen, aber …« Sie brach ab und kam sich mit einem Mal dumm und unzulänglich vor, so wie sie sich während ihrer Ehe mit Dylans Vater meistens gefühlt hatte.
»Aber was?«
Daddy war ein Lügner, wollte sie schreien, sagte jedoch stattdessen: »Wie wär’s, wenn ich dir morgen eine Geschichte erzähle? Vielleicht können wir sogar in den Buchladen gehen und ein Buch aussuchen …«
»Du sollst mir jetzt eine Geschichte erzählen«, beharrte Dylan.
Emma bemühte ihre Fantasie, aber ihr fiel nichts ein. Was war nur mit ihr los? Was für eine Mutter war sie, dass sie keine Geschichten kannte? »Okay, ich erzähle dir eine Geschichte, wenn du mir versprichst, dass du danach gleich einschläfst.«
Dylan nickte begeistert.
»Okay, nur eine«, sagte sie, um Zeit zu schinden. Sie musste sich doch an mindestens eine Geschichte aus ihrer Kindheit erinnern. Nur dass ihr nie jemand eine Gutenachtgeschichte erzählt hatte, wie ihr bewusst wurde.
»Mommy?« Dylan sah sie fragend an.
»Okay. Es war einmal ein kleiner Junge«, begann Emma.
»Wie heißt er?«
»Sein Name ist Richard.«
»Der Name gefällt mir nicht.«
»Nicht? Welchen Namen findest du denn schön?«
»Buddy.«
»Buddy?«
»Ja, in meiner Vorschulklasse heißt ein Junge Buddy, und der ist cool.«
»Cool?«
»Ja. Also, kann der Junge in der Geschichte Buddy heißen?«
Emma zuckte die Achseln, sah auf die Uhr und stellte fest,
dass es Punkt halb acht war. »Also, meinetwegen Buddy.« Wo blieb Mrs. Discala? Sie war doch sonst immer so pünktlich.
»Mommy?«, drängte Dylan sie erneut.
»Was?«
»Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Buddy.«
»Genau. Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Buddy, der war fünf Jahre alt.«
»Wie sah er aus?«
»Buddy war gut einen Meter groß und hatte weiche braune Haare, die sehr gut zu seinen schönen blauen Augen passten.«
»Wie ich?«
»Ja, er sah genauso aus wie du.« Und was jetzt, fragte sie sich. Sie war in so etwas nie besonders gut gewesen, anders als Lily nie das Mädchen, das aufgefordert worden war, seinen Aufsatz vorzulesen. So funktionierte ihre Fantasie einfach nicht. Während sie problemlos über ihre eigenen Erlebnisse plaudern konnte - und da gab es weiß Gott reichlich Geschichten, die sie erzählen könnte -, waren Märchen und Kinderreime einfach nicht ihr Fach. »Und Buddy liebte Lakritzstangen«, fuhr sie mit einer Anleihe aus Lilys abgelehnter Geschichte munter fort. »Die langen, gewundenen roten, von denen seine Schwester ihm immer sagte, sie wären gar nicht aus Lakritz, sondern aus einer Art Plastik.«
»Aus Plastik?«
Mit einem schrecklichen roten Farbstoff, von dem er Krebs bekommen würde, wenn er groß war, zitierte Emma stumm weiter, ohne den Satz laut zu wiederholen.
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