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Traeume Suess, Mein Maedchen

Titel: Traeume Suess, Mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
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fragte sich, ob es die Etikette von Lesezirkeln erlaubte, zehn bis fünfzehn Minuten zu spät zu kommen. Sollte sie Kekse oder eine Flasche Wein mitbringen? Sie hatte weder noch, wurde ihr bewusst, als sie Dylans Schritte auf der Treppe hörte. Endlich, dachte Emma, als er ins Bad zurückkam, den Duschvorhang aufzog und ehrlich überrascht wirkte, sie dahinter vorzufinden.
    »Du hast mich gefunden!«, jammerte Emma mit gespieltem Entsetzen.
    »Noch mal!«, rief Dylan.
    »Hm-hm. Jetzt ist es Zeit, ins Bett zu gehen«, erklärte sie
entschieden. »Du ziehst dir deinen Schlafanzug an, während ich mich anziehe.«
    Nach kurzem Schmollen gehorchte Dylan. Emma stieg aus der Wanne und trat sich die Füße an der abgewetzten pinkfarbenen Matte ab, bevor sie in ihr Zimmer zurückkehrte, den Kleiderschrank durchwühlte und schließlich die zu dicke schwarze Hose und einen nicht zu alten aprikosenfarbenen Pulli auswählte. Ihre Haare waren nur halb trocken, und etliche widerspenstige dunkle Strähnen begannen bereits, sich zu kräuseln. »Verdammt«, fluchte sie, weil sie wusste, dass sie keine Zeit mehr hatte, sie zu irgendeiner passablen Frisur zu bändigen. Es ist immer wieder dasselbe mit mir, dachte sie, als ihr Sohn in einem blauen Flanellschlafanzug hereingestürmt kam.
    »Wohin gehst du?«, fragte er besorgt, als er sie sah.
    »Ich gehe nirgendwohin«, sagte Emma und wünschte, sie müsste nicht lügen. Aber Dylan wurde panisch, wenn sie ohne ihn irgendwo hinging, und im Augenblick hatte sie einfach nicht die Zeit, ihm alles zu erklären. So war es für sie beide einfacher, weniger traumatisch.
    »Und warum hast du dich dann fein gemacht?«
    »Ich habe mich gar nicht fein gemacht.«
    »Doch, hast du wohl.«
    »Nun, ich gehe jedenfalls nicht aus«, log sie erneut. »Mrs. Discala kommt zu Besuch.«
    »Warum?«
    »Weil ich sie eingeladen habe.«
    »Warum?«
    »Darum«, sagte Emma entschlossen, weil sie keine Lust auf Warum-Spiele hatte. Sie hatte nur noch ein paar Minuten, um Dylan ins Bett zu bringen und zu warten, dass er einschlief, bevor sie gehen musste. So gewissenhaft Dylan seine Zu-Bett-Geh-Rituale befolgte, so schnell schlief er danach zum Glück auch ein, manchmal schon, bevor sein Kopf ganz auf dem Kissen gelandet war. Und meist schlief
er fest bis zum Morgen durch. Wenn nicht ein böser Traum ihn mitten in der Nacht wachrüttelte. Aber das würde kein Problem sein, dachte Emma und führte ihren Sohn zurück ins Bad, wo sie beobachtete, wie er langsam die Zahnpastatube aufschraubte und das grün-weiß gestreifte Gel bedachtsam gleichmäßig auf den weichen Borsten seiner orangefarbenen Zahnbürste verteilte. Sie würde nur ein paar Stunden außer Haus und auf jeden Fall früh genug zurück sein, um ihn zu trösten, wenn ihn Albträume quälten.
    Während ihr Sohn sich langwierig die Zähne bürstete, betrachtete Emma ihr Spiegelbild in dem kleinen rechteckigen Spiegel über dem Waschbecken und fand, dass sie müde aussah. Noch nicht ganz dreißig und schon blass und vorzeitig gealtert. Ich brauche Urlaub, entschied sie. Ein paar Tage für mich allein wären wundervoll, dachte sie, während sie stumm die letzten fünfzehn Bürstenstriche für den Oberkiefer mitzählte, die ihr Sohn penibel vollenden musste, bevor er mit dem Unterkiefer beginnen konnte. Sie unterdrückte den Impuls, ihm die Zahnbürste aus der Hand zu reißen, für ihn fertig zu putzen und ihn ins Bett zu scheuchen. Sie erinnerte sich noch, wie sie es einmal versucht hatte und dass die nachfolgende Szene sie beide um Tage zurückgeworfen hatte. Damals hatte sie sogar kurz überlegt, sich bei der Schulkrankenschwester Rat zu holen, die Idee aber rasch wieder verworfen. Eine Schulkrankenschwester kannte sich mit laufenden Nasen und aufgeschlagenen Knien aus, aber nicht mit zwanghaftem Verhalten. Und ein Therapeut kam nicht in Frage. Therapeuten kosteten Geld, das sie nicht hatte. Außerdem würde ein Therapeut jede Menge Fragen stellen, auf die Emma keine Antworten hatte. Zumindest keine, die sie jemandem mitteilen konnte.
    Dylan füllte den kleinen Becher auf dem Waschbeckenrand bis zu einer dunklen Markierung in dem hellen Plastik halb mit Wasser und spülte sich erst die linke und dann die rechte Backe aus, bevor er drei Mal ins Waschbecken
spuckte. Dann stellte er den Plastikbecher auf seinen exakt festgelegten Platz auf dem Waschbeckenrand zurück und wischte sich mit einem dünnen weißen Waschlappen die Mundwinkel ab. »Fertig«, verkündete

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