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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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während sie eilig ans Fenster ging, so als wolle sie ihren Freund auf der Straße entdecken. »Ich war ganz sicher, dass er hier ist. Wie kann er nur einfach so verschwinden?«
    »Sie dachten, er wolle seine Mutter besuchen?«
    »Er war ein bisschen komisch nach dem Tod seines Vaters. Ich weiß auch nicht. Ich war sicher, dass er hierher zurückgekehrt ist. Er hat die ganze Zeit von seiner Mutter gesprochen.«
    Paul wusste nicht, was er sagen sollte. Ihm war klar, dass er ihr wie ein onkelhafter Freund erscheinen musste, und gleichzeitig fragte er sich, ob diese Beschreibung tatsächlich auf ihn passte. Je verzweifelter das Mädchen wurde, desto animalischer und attraktiver fand er sie.
    Elaine drehte sich um, zögerte und trat dann wieder ans Fenster. Aber die Dramatik der Situation befreite sie von ihrer üblichen Scheu. Leise sagte sie: »Er dachte, ich hätte etwas mit einem Anderen. Ich meine, das war ein Teil des Problems. Es war ein ziemliches Durcheinander.«
    »Aha«, sagte Paul.
    »Es war zu dumm. Ich dachte, er wäre hierher gekommen, um mich irgendwie zu bestrafen. Als Test oder so. Deshalb bin ich gekommen.«
    »Wir sollten jetzt ein Hotel für Sie suchen. Meinen Sie nicht auch?«
    Während er sprach, fing ein Telefon an, die Marseillaise zu spielen. Es war Elaines. Da es auf dem Sofa lag, nahm Paul esund hielt es ihr entgegen, als sie eilig durch den Raum gelaufen kam. Sie schaute auf das Display. Missbilligend spitzte sie die Lippen; sie ging wieder ans Fenster, nahm den Anruf entgegen und sagte mit leiser Stimme und abwehrendem Gesichtsausdruck: »Nein, tut mir leid, ich kann jetzt nicht sprechen.« Ihre Stimme klang anders als die, die Paul bisher von ihr kannte; tüchtig und defensiv.
    Elaine beendete den Anruf und schaute hinaus in den Regen. »Ist das jetzt der Monsun?«
    »Zu früh«, sagte Paul. »Er gibt oft eine kleine Probevorstellung, aber ich fürchte, die Hitze wird zurückkehren. Mal sehen, ob wir Sie im India International Centre unterbringen können. Das ist ganz in der Nähe, und eigentlich sollte dort noch etwas frei sein. Im Moment ist keine Touristensaison.«
    Trotzdem brauchten sie ein Taxi. Paul rief an. Elaine schrieb eine SMS. Sie blickte auf. »Ist es dort teuer?«, fragte sie. Während er mit dem Taxiunternehmen sprach, lächelte er und schüttelte den Kopf.

    Sie aßen im Speisesaal des International Centre. Paul hatte über eine halbe Stunde lang an der Rezeption gewartet, während Elaine sich eingetragen hatte und in ihr Zimmer gegangen war. Zu Beginn des Nachmittags war er sich seiner Sache ganz sicher gewesen, war überzeugt, sein Leben würde sich maßgeblich verändern. Jetzt war er nervös und wollte nachdenken, aber das Mädchen war allein, und es wäre nicht nett, sie sich selbst zu überlassen. Helen würde das nicht gutheißen, entschied er.
    Paul betrachtete seine umfangreiche Gestalt in der spiegelnden Glastür. Er empfand die vertraute Unvertrautheit des Gesichts im Spiegel: ein fremder, plumper, ziemlich liebenswürdiger Mann. Sein Haar war an den Schläfen ganz leicht ergraut, aber noch dicht, männlich. Es wird mir guttun, mit Helen zusammen ein anderes Leben auszuprobieren, murmelte er vorsich hin. Er mochte die Ironie der älteren Frau, sie forderte ihn heraus. Es würde ihm Spaß machen, ihr zu beweisen, dass er unter harten Bedingungen zurechtkam. Ich werde abnehmen. Vielleicht, überlegte Paul plötzlich, hatte ihn auf einer unbewussten Ebene an Albert James’ Theorien am meisten die implizite Aufforderung zum professionellen Selbstmord fasziniert: Wenn man überzeugt war, so wie James es eindeutig gewesen war, dass die grenzenlose Anmaßung des Journalismus hässlich war, dass der Versuch, die Menschen zu beeinflussen, sie von diesem oder jenem zu überzeugen, vergeblich war, konnte man sich vielleicht einfach entspannen und aufgeben. Paul war klar, dass er immer angestrengt versucht hatte, die Leute zu überzeugen, sowohl im Beruf wie im Privatleben. Ihm war auch klar, dass er beim Schreiben versuchte, seine Leser zu verführen. Er wollte, dass sie seine Sicht der Dinge übernahmen. Und er war ehrgeizig. Im Grunde war sein ganzes Leben ein Versuch gewesen, sich selber voranzubringen, indem er andere von etwas überzeugte. Ganz egal, was es war. Das hatte ihn an Gandhi so beeindruckt, seine Fähigkeit, die Menschen zu überzeugen. Und das war zweifellos das, was James an ihm unausstehlich fand. Wenn man sich von diesem Zwang befreit, dachte Paul jetzt

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