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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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drei Tagen. Am nächsten Morgen bin ich gleich zur indischen Botschaft gegangen und habe mich angestellt, um ein Visum zu beantragen.«
    »Nun, Weggehen erfordert Mut. Ganz zu schweigen von einem Langstreckenflug.«
    »Wohl eher Verzweiflung«, sagte sie. Sie lachte nervös. Das Mädchen hatte kaum Interesse an der indischen Speisekarte gezeigt, dachte Paul, und auch keine Überraschung angesichts des riesigen, niedrigen Speisesaals und der typisch indischen Geräusche und Gerüche. Sie tat ihm leid. Sie wirkte vollkommen fehl am Platze.
    »Manchmal muss man eben spontan handeln«, sagte er tiefsinnig. »Ehrlich gesagt habe ich mich ähnlich gefühlt, als ich beschlossen habe, das Buchprojekt aufzugeben. Es war eine Entscheidung, die ich einfach treffen musste , obwohl ich mich sehr darauf gefreut hatte, es zu schreiben.«
    Sie schob ihren Teller zur Seite. »Entschuldigen Sie, aber eigentlich denke ich die ganze Zeit nur daran, wo John wohl sein mag.« Eilig fügte sie hinzu: »Wissen Sie, er hatte mir einen Heiratsantrag gemacht. Ich weiß, das ist verrückt, oder? Es hat mich total umgehauen. Vor ein paar Monaten. Als er zur Bestattung hier war. Und jetzt bin ich hergekommen, um Ja zu sagen, ich meine, ich habe mich langsam an den Gedanken gewöhnt, ich wollte bei seiner Mutter auftauchen und Ja sagen, wenn er am wenigsten damit rechnet, und als ich dann ankomme, ist er noch nicht mal da! Und er hat mich angelogen, was seinen Aufenthaltsort betrifft.«
    Paul sah ihren verwirrten Gesichtsausdruck. Er seufzte. »Das ist wirklich zu schade, es wäre eine schöne Geschichte gewesen.« Er wartete einen Augenblick. Er musste das Mädchen zum Nachdenken bringen, statt sie nur leiden zu sehen. »Was glauben Sie, warum hätte er hierher kommen sollen?«, fragte er schließlich. »Ich meine, seine Mutter war doch nicht krank oder so etwas. Sie sagen, er hatte eine Stelle in der Forschung, die ihm viel bedeutete. Ich verstehe das nicht. Aber andererseits verstehe ich auch nicht, warum er sagen sollte, dass er herkommt, wenn es nicht stimmt.«
    Elaine betrachtete ihre Finger. »Er ist launisch geworden«, sagte sie. »Ich weiß auch nicht.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Soll ich Ihnen etwas Seltsames erzählen? Ich kann so gut wie jeden imitieren, ehrlich, das konnte ich schon immer, aber John kriege ich nicht hin. Noch nie. Es ist so, als würde ich ihn nicht … als würde ich ihn irgendwie nicht zu fassen kriegen. Verstehen Sie? Vielleicht bedeutet das, dass ich ihn liebe. Was meinen Sie?« Sie lächelte traurig. »Und seine Mutter habe ich, was, zehn Minuten lang gesehen, und sie könnte ich jederzeit imitieren.«
    Paul betrachtete das Mädchen. Als ihre Blicke sich trafen, zog er eine Augenbraue hoch. »Na los, dann lassen Sie mal hören.«
    »Was? Ich soll sie imitieren?«
    »Warum nicht? Macht sicher mehr Spaß als weinen.«
    »Stimmt.«
    Elaine überlegte einen Augenblick. Sie schloss die Augen und saß ganz still. Dann wurde ihr Gesicht glatter und war irgendwie nicht mehr schief. Die Lippen wurden gerader und dünner, die Augen öffneten sich weiter, die Nase wirkte strenger und spitzer, die Schultern hoben sich und wurden breiter. Mit völlig veränderter Stimme, barscher, tiefer, aristokratischer sagte sie: »Ich habe sehr viel zu tun, fürchte ich, in der Klinik, oje, ich werde noch zu spät kommen! Wir haben zurzeit so wenig Personal, aber Elaine, meine Liebe, machen Sie sich keine Sorgen, es handelt sich sicher nur um eine kleine Kommunikationsstörung. Ich rufe mir nur schnell ein Taxi, ja? Hallo? Helen James am Apparat. Ja. Genau. Gegenüber von Lodhi Gardens.« Sie sagte ein paar Worte in flüssigem Kauderwelsch, die entfernt wie Hindi klangen. »Ja, jetzt gleich, wenn es geht, so bald wie möglich; die Leute verlassen sich auf mich, danke, vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen.« Dann, als riefe sie von Weitem: »Paul, du kümmerst dich um Elaine, nicht wahr? Besorg ihr ein nettes Hotel, und morgen kümmern wir uns dann gemeinsam um die Sache mit John.«
    Paul brach in Lachen aus. »Großartig! Haargenau getroffen. Kaum zu glauben, dass Sie sie erst einmal gesehen haben.« Gleichzeitig erinnerte er sich daran, wie Helen am Nachmittag gewesen war, erschüttert, verstört und dann wieder vollkommen gefasst, nachdem es geklingelt hatte. Es war beruhigend, dachte er, dass Helen James, so durcheinander sie auch sein mochte, nicht zu den Frauen gehörte, die verlangten, dass man sich um sie kümmerte; sie

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