Traeume von Fluessen und Meeren
Zähnen und sorgfältig manikürten Fingernägeln. Sie gingen die Medikamentenvorräte für Notfälle durch: Antibiotika, Antikoagulanzien, Morphium. Immer, wenn Helen die grün-weißen Schachteln mit dem Insulin sah, wurde ihr alles sehr bewusst, eine Flut der Selbsterkenntnis schwoll in ihr an. »Mach es heute Abend, Helen. Streu meine Asche in die Yamuna, mitten in der Stadt, zu dem ganzen anderen Müll.«
»Vierzehn Packungen«, zählte sie.
»Genug, um einen Elefanten umzuhauen«, sagte der tamilische Arzt lachend.
Er ging eilig, und sie blieb noch eine Weile am Fenster stehen und schaute dem Regen in der engen Gasse draußen zu. Er fiel gleichmäßig und stetig, wie in einem aussichtslosen, aber unabänderlichen Reinigungsprozess, strömte über Ziegel und Bretter und pladderte auf Flächen aus Wellplastik. Sie dachte an das Wasser, das den Staub und Schmutz der Stadt hinunter in den Fluss spülte, der ihn ins Meer trug. Sicher fiel der Regen auch hart auf das Denkmal für die toten Kinder unterhalb der Wazi-Brücke, wusch die Scheiße weg, die Asche, die getrockneten Samen und Blütenblätter. Wieso hatte ihre Arbeit in der Klinik durch Alberts Tod ihre Bedeutung verloren? Lag es daran, dass sie selber die grün-weiße Packung geöffnet und das Medikament verabreicht hatte? Er hatte sie dazu gebracht, ihr ärztliches Berufsethos zu verletzen, und jetzt konnte sie ihren Beruf nicht mehr ausüben – war das der Grund? Oder war es nur eine Prüfung gewesen, um zu sehen, ob sie tatsächlich gehorchen würde, wie bei Abraham und Isaak? Vielleicht sollte ich es gar nicht wirklich tun. Vielleicht sollte ich im letzten Moment aufhören. »Vielleicht wollte er deine Hilfe nicht«, hatte Paul gesagt. Helen konnte sich keinen Reim darauf machen. »Du fehlst mir, Albert«, murmelte sie. »Du hättest mich nicht so verlassen dürfen. Du hättest mich nicht dazu bringen dürfen, es zu tun.«
Um neun Uhr abends übernahm sie offiziell die Verantwortung in der Klinik. Dr. Naik war weg. Nicht dass sie allein gewesen wäre. Es war noch eine Nachtschwester da, und ein halbes Dutzend oder mehr Angehörige des Hilfspersonals schliefen im hinteren Hof oder, in Nächten wie dieser, auf Matten in der Kantine. Ich habe Albert damals, vor vielen Jahren, gebraucht, überlegte sie, um England zu entkommen und wegbleiben zu können. Um Mutter und Bruder zu entkommen. Oh, aber es war so viel mehr als nur das. Es war unerklärlich. Urplötzlich war Helen aufs Äußerste erregt. Wie schrecklich, dass sie so die Beherrschung verloren und diesen hartnäckigen Amerikanerdermaßen vollgequatscht hatte. »Das sieht mir gar nicht ähnlich«, sagte sie laut. »Ich will nicht so sein.«
Ein junger Mann war am Nachmittag mit akuten Schmerzen in den Oberschenkeln aufgenommen worden. Um zehn maß die Schwester bei ihm Temperatur und Blutdruck und verabreichte ihm noch einmal ein Beruhigungsmittel und ein Mittel gegen Blutgerinnung. Das Diagnoseverfahren würde am nächsten Tag beginnen. Sie war keine voll ausgebildete Schwester, sondern Medizinstudentin im Praktikum, ebenfalls Muslimin. Die Klinik musste an allen Ecken und Enden sparen. Helen schickte das Mädchen ins Personalzimmer, um sich auszuruhen. Dann sprach sie ein paar Minuten mit einer Mutter, die neben dem Bett ihres kleinen Sohnes auf einer Matte lag. »Er wird jetzt gesund werden«, sagte Helen zu der Mutter. »Er hat die Krise überstanden.« Solche Dinge sagte sie schon ihr Leben lang. Dann ging sie zu Than-Htay und setzte sich zu ihm ans Bett.
Die zwanzig Stationsbetten mit den grünen Einheitsdecken und den weißen Laken standen im gedämpften Nachtlicht. Die Fenster waren offen, damit so viel frische Luft hereinkam, wie die Fliegengitter durchließen. Das Surren der Deckenventilatoren und das Prasseln des Regens mischten sich mit den Seufzern und dem Schnarchen der Patienten. Ein Mann Mitte vierzig lag wach und starrte an die Decke; sein Turban lag noch in Turban-Form auf dem kleinen Regal neben ihm, und sein langes, langsam grau werdendes Haar bedeckte das Kopfkissen. Ein halbwüchsiges Mädchen wälzte sich von einer Seite auf die andere. Albert hatte viele Nächte in dieser und anderen Kliniken verbracht, teilweise um zu helfen, wenn Personal fehlte, teilweise, weil er sich dafür interessierte, inwieweit kulturell konditionierte Verhaltensweisen sich auch in Schlafgewohnheiten äußerten. Das war ein weiteres seiner exzentrischen Projekte. Muslime, die nachts zum Beten
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