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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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ging zu der lauten Hindu-Familie mit den vielen Süßigkeiten und Karten für ihre kranke Tante. Sie lächelte, und die Familie wurde still.
    »Guten Abend, Madam«, sagte einer von ihnen.
    In ruhigem Tonfall wies Helen sie auf die Regeln hin, die Besuchszeiten, die erlaubte Anzahl von Freunden und Angehörigen, was man auf die Station mitbringen durfte und was nicht.
    »Entschuldigung, Madam«, sagte der Älteste der Gruppe sofort.
    »Wir gehen dann gleich«, versprach ein anderer.
    »Es ist meine Schuld, Madam«, sagte die Kranke. »Heute ist der Todestag meines armen Mannes, und wir haben für ihn die Puja gesprochen.«
    Die Schwester schüttelte den Kopf, während die Familie sich lachend und unter gegenseitigen Ermahnungen zur Tür hinausschob. »Sie waren nur unhöflich zu mir«, klagte sie.
    »Ich schicke Ihnen jemanden zum Aufwischen«, sagte Helen.
    Sie ging jetzt zurück in die Ambulanz und schaute zu, wie ein älterer Arzt mit weißer Kappe Tabletten verteilte und den Patienten, die nach der Arbeit in die Klinik kamen, Spritzen gab. Bei diesem Wetter, erklärte er, waren nicht viele gekommen. Ein Junge, der einen Arm verloren hatte, schaute weg und redete sehr laut, während sein Stumpf verarztet wurde. Es roch stark nach feuchten Kleidern und Desinfektionsmitteln. Helen traf sich zum Tee mit Martin, dem holländischen Entwicklungshelfer, der ihr von einem Fall erzählte, den ihnen ein staatliches Krankenhausam Nachmittag geschickt hatte. Die Frau hatte Darmkrebs. Die staatlichen Ärzte hatten sie aufgeschnitten, kurz hingeschaut, sie gleich wieder zugenäht und zum Sterben hierher geschickt.
    Helen mochte Martin. Sie mochte seinen holländischen Akzent, seine Ernsthaftigkeit. Sie bemerkte, dass er sich nach Dienstschluss nur zögernd auf den Heimweg machte. Vielleicht würde er gerne Elaine kennenlernen, dachte sie. Er könnte ihr die Stadt zeigen. Dann würde sie nicht so viel an John denken. Wenn seine Freundin nicht wusste, wo ihr Sohn war, dann wusste sie es erst recht nicht. Offenbar wollte er nicht, dass jemand es wusste. Helen hoffte inständig, dass er nicht in Delhi war. Delhi ist nicht das Richtige für John, dachte sie. Weit weg von mir ist er wesentlich besser dran.
    Sie fragte Martin, was er am Abend vorhabe. Er wollte ins Kino gehen. »Irgendein Bollywood-Film.« Er wollte gern ein bisschen Hindi lernen.
    »Sie sind schon sehr lange hier«, sagte er. »Sie kennen die Sprache und alles.«
    »Erst fünf Jahre. Ich bin mit meinem Mann hergekommen. Er wollte hier forschen. Anthropologie.«
    »Wie interessant. Ich würde ihn gerne mal kennenlernen.«
    »Er ist kurz nach Neujahr gestorben.«
    Es kam Helen ungewöhnlich vor, dass ein Mitglied des Personals die Tatsachen, um die sich ihr Leben drehte, nicht kannte. Aber warum sollte er davon wissen? Martin war erst im März gekommen.
    »Nein, nein, kein Problem«, versicherte sie ihm. »Es ist nur so, dass ich im Moment nicht genau weiß, ob ich hier in Delhi bleiben oder woanders hinziehen soll.«
    »Ich nehme an, Sie haben es sich verdient, nach Hause zurückzugehen.«
    Helen schüttelte den Kopf. Der junge Mann hatte etwas Feierliches, äußerst Charmantes an sich. Sein nackter Arm, derauf dem Tisch lag, war dicht mit weichen blonden Haaren bedeckt. Ein Teelöffel sah in seinen Händen sehr klein aus.
    »Ich denke nicht so über meine Arbeit«, sagte sie. »Ich habe daran gedacht, nach Bihar zu gehen, um dort bei der Kala-Azar-Epidemie auszuhelfen. Hier bin ich leicht zu ersetzen, und mit Kala-Azar kenne ich mich aus, ich könnte dort nützlich sein.«
    »Das ist sehr mutig von Ihnen.«
    »Mit Mut hat es nichts zu tun. Ich mache das schon mein Leben lang.«
    Sehr viele Entwicklungshelfer, das hatte Helen im Laufe der Jahre beobachtet, gingen weg, um sich etwas zu beweisen oder um für etwas zu büßen, und dann fuhren sie wieder nach Hause, ohne Geld in der Tasche, aber mit einem kleinen moralischen Vermögen: Ihr Leben lang konnten sie, wenn die Ungerechtigkeit mal wieder ihr vorwurfsvolles Gesicht zeigte, von sich sagen, sie hätten den Armen der Welt ein ganzes Jahr ihrer Zeit geopfert. Helen würde nie »nach Hause« fahren, wie diese Leute es nannten. Diese Genugtuung würde sie ihrer Mutter niemals gönnen.
    Sie sagte dem Holländer gute Nacht und machte mit dem scheidenden Arzt der vorigen Schicht die routinemäßige Inventur. Dr. Naik war ein adretter kleiner Tamile mit sehr dunkler Haut, einem gepflegten Schnurrbart, hübschen kleinen

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