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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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würde einem nie Schuldgefühle einflößen.
    »Sie haben wirklich Talent«, sagte er ermutigend zu dem Mädchen.
    »Aber genau das hat Hanyaki gestört! Verstehen Sie. Er fand es zu offensichtlich und meinte, ich würde mich über die Person, die ich imitierte, lustig machen. Er glaubte, ich hätte eine Art Überlegenheitskomplex. Ich würde mit dem Finger auf die Figur zeigen, statt sie zu verkörpern .«
    Paul fragte sich, was dem Mädchen mehr zu schaffen machte, ihre Arbeitssituation oder die Sache mit ihrem Freund. »Vielleicht kommen Sie nur mit diesem Regisseur nicht zurecht«, sagte er aufmunternd. »Das ist bei manchen Schauspielern so, das habe ich schon gehört.« Instinktiv fragte er: »Das war aber nicht der Typ, von dem John glaubte, Sie hätten eine Affäre mit ihm, oder?«
    Elaine starrte ihn an. »Woher wissen Sie das?«
    Paul zuckte die Achseln. Das Mädchen hatte ihr Besteck weggelegt und hob jetzt die Hände an ihre Wangen. Die abgekauten Nägel verliehen ihr etwas sehr Jugendliches, Minderjähriges. Dann schaute sich Elaine ziemlich bestimmt im Restaurant um. »Wie elegant diese dicken Frauen aussehen!«, sagte sie. Mit ganz bewusster Gelassenheit tat sie so, als werfe sie sich ein Schultertuch um, und wackelte dabei nach Art der Inderinnen leicht mit dem Kopf. Sofort wirkte sie erwachsen, ja alt. Und ich dachte, sie hätte gar nicht hingeschaut, dachte Paul.
    Elaine wandte sich wieder ihrem Essen zu. Kurz darauf sagte sie zu ihm: »Das Komische an Johns Familie war, dass er unheimlich an ihnen hing, obwohl sie sich nie anriefen, sich keine E-Mails schrieben und sich so gut wie nie sahen. Er sprach ständig von ihnen. Ich meine, so wie ich es mit meiner Familie nie machen würde. Jeder, der John kennenlernte, wusste innerhalb von zwei Minuten, dass er der Sohn von Albert James war. Und der seiner Mutter. Er war total stolz auf die beiden. Deshalb war ich ganz sicher, dass er hier sein würde.«
    Paul gab zu, dass es seltsam war. »Möchten Sie in die Stadt gehen«, fragte er, »wenn der Regen nachlässt?«
    »Und ich komme mir so dumm vor«, beklagte sich Elaine. »Ich meine, hätte ich mich anders benommen, nur ein bisschen anders, ich meine, wenn ich es hätte kommen sehen, wissen Sie, dass er abhaut, wenn ich das geahnt hätte, dann wäre das alles gar nicht passiert. Nichts davon.«
    »Wenn die Leute alles kommen sehen würden«, tröstete sie Paul, »dann hätten wir keine Geschichte, oder?«
    Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte der Gedanke in seinem Kopf auf, dass genau das letztendlich Albert James’ Ziel gewesen sein musste: keine Geschichte mehr zu haben.

29
    Diese Nacht würde keine normale Nacht werden. Helen war nicht so blind, dass sie einen Farbwechsel in der Luft nicht erkannte, eine Wetteränderung. Aber es war noch nichts entschieden. Sie saß im Taxi und betrachtete die Verwüstungen, die der Sturm hinterlassen hatte, die abgerissenen Äste, die umgefallenen Schilder, den überall verteilten Müll. Sie schaute zu, wie der Regen auf all das niederprasselte, wie Hunde um verstopfte Abflüsse herumschlichen. Sie hatte das schon öfter gesehen. Sie dachte an nichts und wusste zugleich, dass die Nacht voller Gedanken sein würde. Sie hätte nicht so offen mit Paul reden sollen. Eine Verteidigungslinie war weggeschwemmt worden. Ein Heer der Reue machte sich bereit zum großen Angriff. Einfach weitermachen, sagte sich Helen.
    Vor der Klinik bezahlte sie den Fahrer und meldete sich, wie immer, wenn sie Nachtdienst hatte, eine volle Stunde zu früh zur Arbeit. Es folgte eine Reihe von beruhigend mechanischen Handlungen. Sie zog ihre Schuhe aus, schloss ihr Behandlungszimmer auf und zog ihre Krankenhaussachen und Arbeitsschuhe an. Sie überprüfte die Aufnahmeliste, ging auf die Station und lief zwischen den Betten umher, nickte denen zu, die sie kannte, las die Krankenberichte derer, die sie noch nicht kannte, und hörte zu, was die Nachmittagsschwester zu sagen hatte, eine Muslimin in mittleren Jahren, die sich heute über Besucher beschwerte, die Essen mitgebracht und eine Schweinerei angerichtet hatten.
    »Wir müssen hier auf Ordnung und Sauberkeit achten!«, beharrte die Schwester. »Sprechen Sie bitte mit ihnen, Dr. James; bitte erinnern Sie die Leute an unsere Regeln.«
    Helen fiel auf, dass Than-Htay heute in einem Bett lag.
    »Er hat schlimm gehustet«, sagte die Schwester. Sie senkte die Stimme. »Blut.«
    Der Junge folgte Helen mit den Augen, sagte aber nichts.
    Sie

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