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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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aufstanden zum Beispiel. Schliefen sie auf muslimische Art? Albert konnte problemlos die ganze Nachtwach bleiben, alle beobachten und sich Notizen machen und kam dann nach Hause und imitierte ein Schnarchen oder einmal sogar einen Schlafwandler. Manchmal sprach er leise mit einem Leidenden, der nicht schlafen konnte; die Sprache war dabei kein Thema; er war immer in der Lage, einem Frommen zu zeigen, in welcher Richtung Mekka lag. Helen hatte ihn für seine Rücksichtnahme und sein Taktgefühl bewundert.
    Aber bei anderen Gelegenheiten hatte sie Albert während ihres Nachtdienstes betrogen. Sie hatte mit netten jungen Ärzten wie Martin geschlafen, und auch mit weniger netten, sogar mit echten Schweinen, mit selbstsüchtigen, machthungrigen Männern wie ihrem Bruder. Es machte ihr Spaß, das Begehren dieser Männer zu wecken, mit ihnen Sex zu haben und nichts für sie zu empfinden, rein gar nichts. Warum hatte sie Paul davon erzählt? Warum legte sie ihr Leben ausgerechnet dem Mann offen, der jederzeit einen Stift in die Hand nehmen und alles aufschreiben konnte? Oder war es genau darum? Niemals würde sie zu ihrer verhassten Mutter und ihrem erbärmlichen Angeber von Bruder nach Hause fahren, niemals in die hässliche, intrigante, vollkommen verlogene Welt ihrer Kindheit zurückkehren.
    Aber warum habe ich diese Welt so sehr gehasst?
    Auf einem Hocker im Halbdunkel der Station, am Bett des kranken jungen Mannes, wurde Helen überwältigt von einem Staunen darüber, wie sie aufgewachsen und was für ein Mensch aus ihr geworden war. Wie ist das passiert? »Wir haben über alles theoretisch gesprochen, Albert, nicht wahr?«, murmelte sie hörbar. »Wir haben endlos darüber gesprochen, dass Menschen in verschiedenen Ländern und unter verschiedenen Bedingungen verschiedene Persönlichkeiten entwickeln, dass das Wesen jedes Menschen mit seinem Ursprung verbunden ist. Aber über uns haben wir nie geredet. Wir haben nie über meine Familie gesprochen, nie über meinen Krieg mit Mutter und Nick.«
    Helen murmelte diese Worte hörbar, so als säße ihr Mannhier neben ihr. »Und über das Zimmer deines Bruders haben wir auch nie gesprochen, wenn ich es mir recht überlege.« Trotz Alberts ach so gründlicher Analyse jeder möglichen Form der Kommunikation hatten sie nie über das frisch geputzte Foto der verhängnisvollen Freundin gesprochen. »Ich habe es dir gezeigt«, hatte er gesagt, als er die Tür wieder schloss, und damit war das Gespräch für immer beendet gewesen.
    Kein einziges Mal war es Helen in den Sinn gekommen, Albert wegen einem der Männer, mit denen sie schlief, zu verlassen, einem der Ärzte, Buchhalter oder manchmal sogar Patienten. Keiner von ihnen besaß auch nur einen Bruchteil der Intelligenz und der Zärtlichkeit ihres Mannes. Keiner von ihnen wusste, wie man Wissen und Schweigen verband. Sie waren Plappermäuler. Sie wollten Information ohne Verständnis. Blabla-bla. Mutter schwatzte ebenfalls ununterbrochen. Helen konnte Schwätzer nicht ausstehen. Nick hatte ständig mit seinen Freundinnen, seinen Autos, seinem Geld geprahlt. Ihr Bruder war ein Idiot. Alberts Schweigen war der Grund, warum ich bei ihm geblieben bin, erkannte sie jetzt, seine absichtsvolle Stille. Wie seltsam.
    Ich darf nicht so viel mit dem Amerikaner schwatzen, nahm sie sich vor. »Tu’s nicht«, befahl sich Helen. »Rede nicht mit ihm.« Albert wusste so viel und hatte dennoch geschwiegen. Die Kombination aus Schweigen und Wissen war es, die so unwiderstehlich war. Albert hatte ihre Beziehung zu ihrer Mutter und ihrem Bruder verstanden. Ohne darüber zu sprechen, hatte er verstanden, dass sie das Schlachtfeld verlassen musste. Sie musste England verlassen. Man brauchte nicht zu besprechen, warum. Sonst hätte ich mein Leben lang nichts Anderes getan, als gegen sie zu kämpfen; das hätte mich aufgefressen. Ich hätte nichts Anderes zustande gebracht.
    Ja, Albert hatte sie verstanden, erinnerte sich Helen. Genau genommen fiel ihr nichts ein, was er nicht verstanden hatte. SeinWissen hat meins eingeschlossen. Die einzige Ironie lag darin, dass diese außerordentliche Intuition im Endeffekt nicht zu einem echten wissenschaftlichen Durchbruch geführt hatte. Im Endeffekt hatte Albert versagt. »Jede wichtige Kommunikation«, hatte sie aus einer seiner Abhandlungen bei einer Konferenz in Los Angeles vorgelesen, »findet ohne Sprache statt, oder außerhalb der Sprache, oder trotz der Sprache.« Sie sah gleich, dass die Professoren

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