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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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das nicht verstanden. Diese Dinge waren schwer zu verdeutlichen. Sie waren nicht wie ein Zimmer voller Spinnweben, das man vorzeigen konnte, oder ein Foto auf dem Nachttisch.
    »Du hast deine Texte für mich geschrieben«, sagte Helen leise, »nicht wahr, Albert?«
    Ihr ganzes Eheleben lang war Helen überzeugt gewesen, dass ihr Mann als einer der großen Denker seiner Zeit in die Geschichte eingehen würde. Sie hatte sich bei ihm sicher gefühlt, war stolz auf ihn gewesen, stolz, dass sie ihn geheiratet hatte. Aber stattdessen hatte er nichts erreicht. Alberts gesamtes Denken hatte zu nichts geführt. Die kleine Schlampe in Chicago hat ihn zerstört, entschied Helen, hat ihn seiner Kraft beraubt. Ein Mann mit diesem verstaubten Zimmer im Hintergrund hätte niemals eine minderjährige Prostituierte angerührt. Sie wusste das. Sie wusste, dass sein Vater das Bild geputzt hatte. Er brauchte es ihr nicht zu sagen. Was hätte sie da machen sollen, außer wie eine Wilde daran zu arbeiten, seinen Ruf zu retten? Und dann, als die Schlacht endlich gewonnen war, hatte er aufgehört, mit ihr zu schlafen. Er hatte jeden körperlichen Kontakt eingestellt.
    »Warum? Warum hast du das getan, Albert?«
    Helen saß still auf Than-Htays Bett, lauschte dem Atmen und Rascheln und den plötzlichen Seufzern ihrer Patienten und knetete ihre Hände. Albert hat nie eine Nacht in einem Krankenhausbett verbracht, fiel ihr ein. Nicht ein einziges Mal. War das nicht ungewöhnlich?
    Sie schloss die Augen. Da war er wieder. Der Gedanke kam und ging, der Gedanke, zu dem all ihr anderes Denken unweigerlich führte: Es war nicht die Angst vor körperlichen Qualen, die Albert dazu getrieben hatte, sie um den Tod zu bitten. Das ist die Wahrheit, und du musst ihr ins Gesicht sehen. Es war nicht die Angst vor Schmerzen und Medikamenten.
    »Es war das Ende unserer Ehe«, flüsterte Helen. »Nicht wahr, Albert?«
    Oder vielmehr Alberts Weigerung, sie enden zu lassen, solange er am Leben war. Das war das Leid, das er nicht durchmachen wollte, das sie nicht durchmachen sollte; das war das, was nicht passieren durfte. Ihre Ehe durfte nicht zu Ende gehen. Wenn wir je eine echte Hochzeitszeremonie hatten, erkannte sie, aber jetzt sprach sie die Worte nicht mehr hörbar aus, dann als er sagte: »Komm, wir machen es jetzt, Helen. Lass uns etwas tun, was sich nicht rückgängig machen lässt.«
    Than-Htay hustete. Das Husten weckte ihn. Es wurde zu einem Anfall. Als seine Brust von Krämpfen geschüttelt wurde, richtete sich der Jugendliche im Dämmerlicht auf und stützte sich mit den Ellbogen ab. Andere auf der Station regten sich. Helen stand auf, legte eine Hand an seinen Hinterkopf, brachte ihn zum Sitzen und wischte ihm den Mund mit Papiertüchern ab. Er atmete jetzt wieder; sein Blick verriet keinerlei Erstaunen über ihre Anwesenheit. Sein Ausdruck zeigte nichts als Resignation und Niedergeschlagenheit.
    »Alles in Ordnung?«
    Der Junge hustete. Sein Brustkorb verspannte sich.
    »Alles okay?« Sie fragte auf Hindi, auf Gujarati.
    Er reagierte nicht. Er sagte nichts und machte keine Zeichen.
    Selbst wenn er nicht gut hört, muss er gesehen haben, wie sich meine Lippen bewegen, dachte Helen. Ihm muss klar sein, was ich ihn frage.
    Der Junge sank zurück auf das Kissen. Sein Blick warvorwurfsvoll. Er möchte sterben, dachte sie. Oder er wartet auf den Tod. Er hat nichts. Keine Familie, keine Kraft, keine Zukunft. Nur schlimme Erinnerungen.
    Helen stand auf, durchquerte die Station und bog nach links in den Flur ein. Schnell ging sie zu ihrem Büro am Ende des Gangs, schloss auf, öffnete einen Schrank und trank einen Schluck Royal Challenge direkt aus der Flasche. Sie setzte die Flasche ab, hielt den Deckel direkt über die Öffnung, als wolle sie ihn wieder aufschrauben, und trank dann noch einen Schluck. Sie und Albert waren in den letzten Jahren beide zu regelmäßigen Trinkern geworden. Die Routine brachte sie durch den Tag, und dann kam die Lücke zwischen Arbeit und Schlafengehen, in der man trank. Sie redeten viel miteinander, während sie tranken, aber nie über die Dinge, über die man nicht reden durfte.
    Helen nahm noch einen langen Zug und schaute sich in dem billigen Glas des Schranks an. Sie sah die Flasche zwischen ihren Lippen und ihre Augen, die darüber sanft glänzten.
    »Du hast mich wie einen Gott behandelt, nicht wie einen Mann«, flüsterte Albert.
    Helen erstarrte und ließ die Flasche sinken. Wann hatte er das gesagt?
    »Albert?«,

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