Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
Vom Netzwerk:
rief sie leise.
    Sie erinnerte sich nicht mehr. Hatte er es gesagt? Oder erst jetzt? Hat er es jetzt gesagt?
    »Du hast mich wie einen Gott behandelt, Helen.«
    Der Alkohol ist ihr zu Kopf gestiegen. Aber es stimmt, ich habe ihn auf eine andere Ebene gehoben. Schon immer, von Anfang an.
    Steht er hinter ihr im Dunkeln? Sie drehte sich nicht um. Kann es sein, dass er zuschaut?
    Sie hatte Albert wie einen Gott behandelt. Ja. Ihn über Moral und Konflikte erhoben. Alle anderen Männer waren niemand. Paul ist ein Niemand, dachte sie. Paul suchte nach einemGott, als er sich Albert zuwandte. Aber Albert hat solche Menschen immer weggeschickt.
    Und jetzt versuchte der Amerikaner, aus ihr eine Heilige zu machen.
    Sie hatte sich gewünscht, dass John Albert anbetet. Stattdessen hatte der Junge Kritik geübt. John war bockig und missgünstig. Er hat sich an mich gehängt und Kritik geübt. Ich darf nicht mit Paul zusammenleben, beschloss Helen. Ich quassele sonst zu viel. Ich werde anfangen, alles, was wir zusammen gemacht haben, rückgängig zu machen. Sie erkannte jetzt, dass dies in der Tat die einzige Möglichkeit gewesen wäre, einem zukünftigen Leben Sinn zu verleihen: Sie musste rückgängig machen, was sie mit Albert gemacht hatte. Sie musste ihn loslassen, ihn zu etwas Kleinerem, Menschlicheren schrumpfen lassen. »Werde ich aber nicht«, murmelte sie. Es war hässlich. Eine Farce. Erneut hob sie die Flasche an den Mund, nahm einen langen Schluck, schraubte den Deckel wieder auf und schloss sie im Schrank ein.
    Than-Htay will nicht leben, sagte sich Helen. Es war seltsam, dass Albert keine eigenen Kinder wollte, aber überall Ersatzkinder fand, Jungen und Mädchen. Er hatte sich mit Than-Htay sofort angefreundet. Er freundete sich gerne an mit Menschen, die ihm nicht folgen konnten, die sich nicht als intellektuelle Jünger hervortun wollten. Jünger machten Albert verlegen.
    Da die Patienten jetzt alle ruhig waren, hätte Helen sich hinlegen können; sie hatte eine Matratze in ihrem Büro. Die Schwester machte um Mitternacht, um zwei und um vier einen Kontrollgang. Und dann würde von der Jama-Masjid-Moschee der Gebetsruf ertönen, der Aufruf, einen weiteren Tag ohne Albert zu beginnen. Um sechs kam dann Dr. Devi. Aber all das schien noch weit entfernt zu sein. Diese Gedanken hatten sie auf eine Idee gebracht. Nein, keine neue Idee; ganz und gar nicht neu; im Gegenteil. Helen ist sich darüber im Klaren, dass sie seit dem Tod ihres Mannes an nichts Anderes gedacht hat.
    Sie durchquerte die Station und schloss eine kleine Abstellkammer auf, die auf den Hof hinter der Klinik hinausging. Sie entriegelte die Außentür, schob sie ein Stückchen auf und schaute hinaus. Der Regen hatte noch nicht nachgelassen. Die großen Topfpflanzen bekamen ganz schön was ab. Es waren Bougainvillen und Jasmin. Und frische Kräuter für die klinikeigene Küche. Umgeben von vier hohen Ziegelmauern war der Hof dunkel und geschützt, aber die Geräusche der Stadt drangen dennoch hinein. Die ewigen Hupkonzerte von Delhi hatten nach dem Sturm wieder eingesetzt; man hörte aus einer kaputten Dachrinne das Wasser platschen und Schreie und Lachen aus dem Gebäude gegenüber, wo hinter bunten Vorhängen im zweiten oder dritten Stock flackernde Lichter brannten.
    Helen lauschte. Hinter diesem Hof, das wusste sie, befand sich die riesige Bevölkerungsmasse von Alt-Delhi, sehr viele Menschen, die in Armut lebten, viele von ihnen muslimische Überlebende der Teilung Indiens. »Alle Leben, die du in den letzten dreißig Jahren gerettet hast, können durch sektiererische Gewalt an einem einzigen Tag ausgelöscht werden«, murmelte sie. Aber solche Rechnungen waren sinnlos. Es ist sinnlos, nach Gründen zu suchen für das, was man getan hat. Man hat es getan, und damit hat es sich.
    Ich will John nicht sehen, entschied sie. Ich darf nicht. Helen spürt jetzt, dass ihr Sohn in der Nähe ist. Sie spürt, dass er in Delhi ist. Er ist hergekommen. Was macht er hier? fragte sie sich. Wieso verfolgt er mich? »John ist eine Last«, sagte sie laut. Es ist zu seinem eigenen Besten, wenn wir uns nicht sehen. Er muss sich von diesen Wurzeln, oder besser gesagt von dieser Entwurzelung, befreien. Eine Erklärung würde ihm nichts nützen. Durch Alberts Tod habe ich die Fähigkeit zu schweigen verloren, wurde ihr klar. Sie war aus dem Gleichgewicht geraten. Ich bin geschwätzig geworden. Aber John gegenüber durfte sie nicht geschwätzig werden. Das darfst du

Weitere Kostenlose Bücher