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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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Verkehr, und der schräg fallende Regen glitzerte in der erleuchteten Luft. Elaine fand die schmuddeligen Tiere am Straßenrand und die Männer, die unter provisorischen Biwaks Feuer machten, interessanter. Aber selbst diese Sehenswürdigkeiten fesselten sie nur vorübergehend. Nach ein paar Minuten griff sie nach dem Handgelenk des älteren Mannes: »Meinen Sie, wir sollten die Polizei informieren?«
    Die Hand des Mädchens war angespannt und lebendig, und Paul genoss es, ihre Berührung auf seiner Haut zu spüren. So wie sie hier neben ihm im Taxi saß, hätte sie eine der vielen jungen Frauen sein können, mit denen er im Laufe seiner beiden Ehen und danach ausgegangen war, alle ungefähr in Elaines Alter, alle unendlich begehrenswert.
    »Ich meine wirklich, er wird schließlich vermisst«, beharrte Elaine. »Oder etwa nicht? Lässt alles stehen und liegen und schreibt eine Nachricht mit einer falschen Zieladresse, damit niemand nach ihm sucht. Die Polizei sollte darüber informiert werden.«
    »Das besprechen wir morgen mit Helen«, sagte Paul. »Schauen Sie mal, die Kuppel dort links. Das ist die Jama Masjid, Delhis größte Moschee.«
    »Aber was, wenn er sich umgebracht hat?«
    »Wie bitte?«
    »Ich weiß, das klingt albern, aber was ist, wenn er sich aus Verzweiflung etwas angetan hat, weil er dachte, dass ich ihn betrüge?«
    Paul beruhigte sie. »So etwas macht niemand, Elaine. Glauben Sie mir. Manche drohen damit, aber sie tun es nicht. Wissen Sie, ich bin mindestens ein Jahr länger als gut war bei meiner zweiten Frau geblieben, weil sie gedroht hat, sich umzubringen. Fahren Sie da vorne links, bitte, an der Bahnstrecke entlang«, er beugte sich vor, um mit dem Fahrer zu sprechen – das Auto konnte hier nur Schrittgeschwindigkeit fahren –, »dann zurück durch die Seitenstraßen in Richtung CP.«
    Leute mit und ohne Regenschirm drängelten sich durch den Verkehr. Ein paar Männer waren dabei, eine riesige Plakatwand wegzuräumen, die der Wind mitsamt dem Gestell umgerissen hatte. Der Abend war ein einziges Getöse aus Hupen und geschäftigem Durcheinander.
    »Schauen Sie sich mal den Klotz da rechts an«, sagte Paul zu Elaine. »Das Rote Fort. Aus der Mogul-Zeit. Kolossal.«
    Aber Elaine ließ sich nicht ablenken. »Sein Onkel hat es getan«, sagte sie pathetisch.
    »Wie bitte?«
    »Sein Onkel hat Selbstmord begangen. Es liegt bei ihm in der Familie. Ich meine, warum würde er sonst verschwinden undwochenlang keine einzige Nachricht beantworten? Er hat immer alle Nachrichten beantwortet. Und sei es nur, um sich zu streiten. Vielleicht ist er schon die ganze Zeit tot.«
    »Elaine«, sagte Paul mit fester Stimme, »jetzt sehen Sie mal nicht so schwarz. Man muss in einer ziemlich außergewöhnlichen Verfassung sein, um sterben zu wollen. Und dann braucht man ziemlich viel Mut, um es wirklich zu tun. Ich kenne niemanden, der es getan hat. So deprimiert die Menschen manchmal auch sein mögen, die meisten lieben letztendlich das Leben.«
    Während er das sagte, wurde Paul klar, dass Johns Vater im Grunde genommen auch Selbstmord begangen hatte. Und zwar, da war sich Paul sicher, obwohl er das Leben liebte und vermutlich überhaupt nicht deprimiert war, jedenfalls nicht im üblichen Sinne.
    »Und selbst wenn er es getan hat«, fuhr er fort, »nur mal angenommen, dann wäre es wohl kaum Ihre Schuld, oder? Ich will nicht unsensibel sein, ich will nur sagen, da die Entscheidungen der anderen außerhalb unserer Kontrolle liegen, ist es zwecklos, sich deswegen zu quälen. Stimmt’s? Machen Sie sich nicht fertig.«
    Der Fahrer schaute über seine Schulter. »Ich bringe Sie zum Crafts Emporium, Sir? Ich glaube, Ihre Tochter mag Schmuck? Nur fünf Minuten gucken. Das ist gut für Sie, Sir – Regen ist sehr stark.«
    »Doch, es wäre meine Schuld«, verkündete Elaine mit matter Stimme. »Wirklich. Es wäre wirklich meine Schuld.« Sie schien nicht gehört zu haben, was der Fahrer gesagt hatte. Sie schaute aus dem Fenster, ohne das grellbunte Gewühl und die auffälligen Kleider, die vom Regen tropfnass waren, überhaupt wahrzunehmen.
    »Aber warum? Wie kann das sein?«
    »Sehr schöne Sachen in diesem Emporium. Nur fünf Minuten schauen, Sir.«
    »Weil ich tatsächlich eine Affäre hatte. Ich habe ihn betrogen.«
    »Echtes Paschmina, Holzschnitzereien, sehr ausgefallen. Silberne Ohrringe und Halsketten.«
    Elaine hatte angefangen zu weinen. Paul bemerkte das leise Beben ihres Köpers. Er nahm ihre Hand und drückte

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