Traeume von Fluessen und Meeren
Nase gehalten. Hinter den neonbeleuchteten Wandbehängen drang indische Musik hervor, zu leise, als dass man hätte zuhören können, aber allzeit präsent. Auch die Polster versuchten, ein bisschen Lokalkolorit zu erzeugen, aber eines, in dem westliche Besucher sich wohlfühlen konnten. Paul Roberts fragte, ob sein Gast etwas dagegen hätte, wenn er sich einen Gin bestellte. »Ich bin ein bisschen nervös«, sagte er lachend. Sein Gesicht hatte etwas Irisches, dachte sie, es wirkte gesund, ernst und ein bisschen dümmlich.
Jedenfalls war er vereinnahmend. Kaum waren die Getränke gekommen, begleitet von den unvermeidlichen Nüssen, Keksen, glänzenden Teelöffeln und gefalteten weißen Stoffservietten, da fragte er: »Nachdem Sie mir gesagt haben, womit ich anfangen soll, Mrs. James, darf ich nun davon ausgehen, dass Sie sich freuen, wenn ich dieses Buch schreibe? Kann ich mit Ihrer Unterstützung rechnen?«
Helen trug ein schlichtes, sehr elegantes graues Wollkleid. Sie hatte es bewusst gewählt, ohne sich jedoch ganz im Klaren darüber zu sein, für welchen Anlass sie sich anzog. Einen Anlass ohne Albert.
»Ich weiß nichts von Ihnen«, sagte sie höflich. »Ich binehrlich gesagt ein bisschen überrascht, dass ein Bewunderer von Albert im Ashoka absteigt.«
»Ach ja?« Der Amerikaner zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin sehr eilig abgereist«, erklärte er. »Das indische Fremdenverkehrsamt hat die Buchung für mich erledigt.«
Helen betrachtete ihn. Konnte es sein, dass er Student war, als Albert für kurze Zeit in den Staaten unterrichtet hatte?
»Mrs. James, ich stand schon seit einiger Zeit mit Ihrem Mann in E-Mail-Kontakt. Wir haben, ähm, die Frage einer Biografie erörtert. Mir war nicht klar, dass er krank war. Ich hatte davon keine Ahnung. Er hat es mit keinem Wort erwähnt.«
Sie nippte an ihrem Tee.
»Hat er Ihnen nicht von unserer Korrespondenz erzählt?«
»Nein.«
»Ich kann Ihnen die E-Mails zeigen«, sagte Paul Roberts, »obwohl wir, wie gesagt, erst am Anfang der Diskussion waren.«
Wieder sagte Helen nichts. Der Mann strahlte eine starke Kraft aus, eine zwingende, fast naive Energie. Er wollte gemocht werden, aber natürlich nur, weil sie Alberts Frau war.
»Der Grundgedanke«, fuhr der Amerikaner fort und beugte sich beschwörend vor, »war, eine Biografie zu schreiben, die seinem Denken und seinem Leben gleich viel Raum gibt, verstehen Sie, die zeigt, wie das eine aus dem anderen erwachsen ist, und wie relevant dieses Denken für unsere heutige Welt ist.«
Helen schwieg einen Moment. »Erzählen Sie mir von sich«, sagte sie schließlich.
»Was soll ich sagen?« Der Amerikaner lehnte sich zurück. Er hatte volle, zufriedene Lippen, eine eher breite Nase und gerötete Wangen. »Mein Vater war evangelischer Pastor. Aufgewachsen bin ich in Albany. Ich bin wohl das schwarze Schaf in der Familie. Habe in Harvard Philosophie studiert. Dann ein kurzes Aufbaustudium absolviert, parallel dazu als freier Journalist gearbeitet, bis ich beim Globe , ich meine den Boston Globe ,gelandet bin und dort schließlich Auslandskorrespondent wurde. In den letzten Jahren habe ich zwei Bücher veröffentlicht. Eine Art fiktionalisierte Biografie von Gandhi für eine Verlagsreihe, und ein Reisebuch: Asiatische Abende . Da beide sehr erfolgreich waren, habe ich mich vom Alltagsjournalismus mehr und mehr abgewendet. Reine Glückssache vermutlich. Jedenfalls habe ich es diesem Erfolg zu verdanken, dass ich einen Verleger für Albert James interessieren konnte.«
An dieser Stelle beugte sich Paul Roberts erneut über die glänzende Tischplatte und schaute Helen James direkt in die Augen: »Aber dieses Buch, Mrs. James, wird wesentlich ernsthafter sein als die anderen beiden. Dies ist das Buch, das ich wirklich schreiben will. Ich bin tatsächlich überzeugt, dass Ihr Mann eine der wichtigsten Persönlichkeiten unserer Zeit war, Mrs. James. Ich meine, er hat den zentralen Widerspruch der Moderne erkannt, und er war sich dessen bewusst. Kommunikation, Bewusstsein, Einmischung, Nicht-Einmischung, die geistige Ökologie des globalen Lebens, das Innen und das Außen: Es geht darum, dass die Menschen verstehen, was Albert verstanden hat.«
Helen James spürte einen heftigen Schmerz. Tränen stiegen in ihr hoch. Sie stand auf. »Vielen Dank, Mr. Roberts. Ich werde jetzt gehen und darüber nachdenken.« Sie nahm ihre Jacke von der Stuhllehne.
Der Amerikaner war bestürzt. »Mrs. James! Bitte bleiben Sie noch. Ich
Weitere Kostenlose Bücher