Traeume von Fluessen und Meeren
gingen. Ein Zelt und eine Schreibmaschine, das war alles.«
»Aber nur, weil du deine Mutter gehasst hast«, sagte er.
»Ich habe sie nicht gehasst. Wir haben uns nur nicht verstanden.« Und sie fügte hinzu: »Die Eltern deines Vaters waren auch nicht gerade arm, aber wir haben nie Geld von ihnen angenommen. Wir haben einen klaren Schnitt gemacht.«
John schaltete um. Er verfolgte mit starrem Blick eine Sendung auf Hindi, in der es um traditionelles Theater zu gehen schien, oder um dessen Verschwinden. Helen schaute ihn an. Sie war kurz vor dem Explodieren. Wenn er weiter solchen Druck macht, dachte sie, dann sage ich etwas. Aber der Junge hielt sich zurück, wie ein Tier, das seine Kraft nicht einzusetzen weiß. Er wusste nicht, was er machen sollte. Dann wollte sie ihn aus dem Haus haben. Sie wollte ihre Arbeit in der Klinik und nichts weiter.
»Auf keinen Fall werde ich bei Oma Janet betteln gehen, verdammt noch mal«, wiederholte er schließlich.
Helen lachte laut auf. Sie klatschte sogar in die Hände.
»Und wenn das Geld so knapp ist«, fuhr er sie an, »wieso bezahlst du dann einen Fahrer und ein Hotel, bloß damit ich mir irgendein bescheuertes altes Denkmal anschaue, das mich einen Scheißdreck interessiert? Das Sufi-Zeug war grauenhaft. Total primitiv! Da fliege ich lieber wieder nach Hause. Ich habe Arbeit im Labor. Ernsthafte Arbeit.«
»Ich habe schon alles für morgen arrangiert«, sagte sie ruhig. »Dein Vater wollte unbedingt, dass du dir das Taj Mahal anschaust. Diese Dinge kosten hierzulande nicht viel.«
»Ich mache es nicht«, sagte er noch mal. Er wurde vom Piepen seines Handys unterbrochen, als eine SMS eintraf. Er zog das Telefon aus seiner Tasche und stand stirnrunzelnd auf. »Egal«, sagte er, »gute Nacht. Ich habe immer noch Jetlag, ich gehe ins Bett.«
Nach ein paar Minuten war Helen hinter ihm hergekommen, hatte angeklopft, vorsichtig die Tür aufgemacht und gesagt: »John, lass uns über etwas Schönes sprechen. Erzähl mir von deiner Freundin. Ich nehme an, die Nachrichten kommen von ihr.«
»Ich habe dir schon von ihr erzählt.«
Helen war an der Tür stehen geblieben.
»Sie ist am Theater«, sagte er. »Aber das habe ich dir schon erzählt. Elaine ist wohl der witzigste Mensch, dem ich je begegnet bin. Ich meine, sie kann wirklich jede Stimme imitieren. Sogar besser als Dad.«
»Aber doch wohl keine Eselsschreie.« Helen zog eine Augenbraue hoch.
»Nein, Eselsschreie nicht«, sagte John lächelnd. Albert James hatte eine berühmt gewordene Studie über meta-kommunikative Signale unter Eseln veröffentlicht. Er hatte urkomische Imitationen zum Besten gegeben. »Aber am Telefon kann sie die verrücktesten Stimmen total glaubwürdig nachahmen.« Er runzelte die Stirn: »Leider hat sie zurzeit Schwierigkeiten, ihre erste Anstellung nach der Schauspielschule zu bekommen. Ihr Vater setzt ihr ständig zu, sich einen ordentlichen Job zu suchen.«
Helen betrachtete ihn. »Das muss ein hartes Leben sein, Theater, Filme.«
»Du solltest sie kennenlernen, Mum.« John blickte auf, plötzlich wieder eifrig. »Sie ist sehr hübsch. Du würdest sie mögen.«
Wie alle Mitglieder der Familie James konnte er einen Streit innerhalb von wenigen Momenten beilegen. Niemand bat je um Verzeihung.
»Du weißt, der Bruder deines Vaters wollte immer fürs Theater schreiben«, sagte Helen.
»Stimmt«, sagte John mit gerunzelter Stirn. »Also, Mum, diese Art von Geschichten sollte ich ihr lieber nicht erzählen …«
An diese Bemerkung ihres Sohnes dachte Helen James, als sie am folgenden Nachmittag fast als Erstes zu Paul Roberts sagte: »Sie können Albert nicht verstehen, Mr. Roberts, wenn Sie sich nicht über seinen Bruder John Gedanken machen. Bei dem sollten Sie anfangen.«
»Der, der sich umgebracht hat?«, fragte der Amerikaner.
Helen war verblüfft über seine Direktheit. »Unter anderem«, sagte sie trocken. Allein die Tatsache, in einem Hotel wie dem Ashoka zu sitzen, weckte in ihr wieder die rebellische, nonkonformistische Haltung, in der sie sich am wohlsten fühlte. Der protzige Luxus war obszön. Dennoch beeindruckte es sie, dass der Amerikaner dort wohnte. Es bedeutete, dass er über ein beträchtliches Einkommen verfügte.
Sie saßen an einem niedrigen Tisch im Bambuszimmer und wurden von lautlosen, buckelnden Kellnern umsorgt. Helen hatte Tee bestellt, und man hatte ihr auf einem silbernen Tablett eine lächerliche Auswahl von einem Dutzend verschiedener Marken vor die
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