Traeume von Fluessen und Meeren
verblüffende Ausgewogenheit und Ruhe ausstrahlte.
»Sieht aus wie Bakterien unter einem Elektronenmikroskop«, sagte John absichtlich provozierend zu seinem Führer. Er hätte die Wände gerne berührt, aber das war nicht gestattet. Jedes einzelne Muster verband sich mit dem nächsten zu einer unendlichen Spirale ewiger Wiederholung: Flachrelief-Blumen aus grauem Marmor mit roten, blauen und goldenen Blüten aus Halbedelstein. Johns Großvater war Botaniker gewesen.
»Und sehen Sie, genau in der Mitte all dieser Schätze«, sagte der Führer jetzt, »dieses Kenotaph …«
»Mit dem Leichnam der Lady.«
»Nein. Nicht da drin. Als es so weit war, wurde der Sarkophag der Prinzessin und später der des Sultans unter dem Fußboden bestattet. Das war einfacher. Aber die ursprüngliche Idee war, sie in die eingelassenen Hohlräume hinter dieser edelsteingeschmückten Wand zu schieben. Sehen Sie hier, das steinerne Gitterwerk ist von höchster Feinheit, wie das Zentrum eines Netzes, ein berückendes Kunstwerk, das in der ganzen Welt nicht seinesgleichen findet.«
John ging eilig nach draußen. Er wollte den Fahrer bitten, direkt nach Delhi zurückzufahren. Er wollte nicht in Agraübernachten. Er wollte das Fort, von dem man ihm erzählt hatte, nicht sehen. Er wollte mit Mutter reden.
»Sie müssen sich wenigstens noch den Fluss anschauen«, beharrte der Führer, »und die Moschee und das Jawab.«
John war damit einverstanden, dass sie um das Mausoleum herumgingen, um einen kurzen Blick auf den Fluss zu werfen. »Aber wirklich nur einen kurzen Blick«, beharrte er. »Und was mag wohl ein Jawab sein?«
»Ein Jawab ist etwas, das man macht, um ein Gegengewicht zu etwas anderem herzustellen«, sagte der Führer. »Verstehen Sie, die Moschee ist die Moschee, sie steht auf der einen Seite des Taj, und das Jawab steht auf der anderen Seite, als Gegengewicht zur Moschee, aber es ist keine Moschee. Es ist gar nichts. Nur ein Jawab.«
John schüttelte den Kopf. Sie erreichten das Geländer hinter dem Mausoleum und schauten hinunter auf das weite, leere Tal und den Fluss in der Ferne, der sich vor dem Hintergrund einer Hügelkette durch breite Sandbänke schlängelte. Die vorherrschende Farbe war Braun. Neben dem Fluss zogen winzige Gestalten in grellbunten Saris – gelb, lila, grün und golden – dünne Rillen in die Erde.
»Sie bereiten den Boden vor, um Melonen anzupflanzen.« Der Führer hörte nicht auf zu reden. »Dort unten am Fluss ist die Erde sehr fruchtbar. Wenn der Regen kommt, wächst alles sehr schnell.«
John starrte auf die winzigen Gestalten in den leuchtenden Gewändern, die ihre nachmittägliche Arbeit verrichteten. Ein Kamel mit einem riesigen grauen Bündel auf dem Rücken watete durch den Fluss.
»Wie heißt er?«, fragte er.
»Wie bitte?«
»Wie heißt der Fluss?«
»Das ist die Yamuna.«
»Ich möchte jetzt wirklich gehen«, sagte John. Nachdem er am Ausgang sein Handy wieder in Empfang genommen hatte, fragte er: »Und ist das Kind eigentlich auch gestorben?«
Wieder verstand ihn der Führer nicht gleich.
»Das Kind, dessen Geburt den Tod der geliebten Prinzessin verursacht hat.«
Sie waren bereits in den Elektrobus gestiegen. »Gauhara Begum war das vierzehnte Baby der Mumtaz Mahal.« Der Mann freute sich über diese letzte Chance, sein Wissen zu zeigen. »Gauhara wuchs heran und genoss ein langes Leben. Mumtaz war die zweite Frau des Sultans«, fügte er hinzu, »aber seine Favoritin.«
7
Die Fahrt nach Delhi dauerte drei öde Stunden. Johns Gedanken drehten sich im Kreis. Er konnte dem Geplapper des Fahrers nicht folgen. Es war schon längst dunkel, als sie eintrafen. Seine Mutter saß auf ihrem Platz am Tisch, unter einer grellen Glühlampe. »Aber das Hotel war doch schon bezahlt, Junge!« Sie wirkte zugleich besorgt und – John konnte sich das nicht erklären – jünger. Da er keinen Kommentar zu den Elefanten hören wollte, brachte er sie eilig in sein Zimmer. Er müsse unbedingt duschen, sagte er. Da kam eine SMS von Elaine; sie wollte wissen, wann genau er zurückkommen würde. Aber es war ihm unmöglich, sich auf das Hin und Her eines SMS-Austauschs zu konzentrieren.
»Mum?« Er ging wieder ins Wohnzimmer. »Hör mal …«
Sie las in einigen Papieren, die auf dem Tisch ausgebreitet waren. »Hat dir das Taj wenigstens gefallen?«, fragte sie, allerdings ohne dabei aufzublicken. Sie trug ihre Lesebrille.
»Es war sterbenslangweilig«, sagte er. Er wandte sich ab, ging in die
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