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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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abgehalten. Oder die Erinnerung an seinen Bruder, die ihn an seinen eigenen Tod denken ließ. Aber wer hatte ihn dann abgeschickt? Mutter jedenfalls nicht.
    John betrachtete erneut den Umschlag. Vielleicht war es ein Streich. In den Jahren, als Albert James seinem Sohn noch geschrieben hatte, ins Internat, hatte er manchmal behauptet, dass er und Helen ein seltsames, bisher unbekanntes Tier entdeckt hätten, eins mit sieben Beinen zum Beispiel, oder zwei Köpfen, oder dass sie ein ausgefallenes Ritual »gesammelt« hätten, bei dem die Häuptlinge dieses oder jenes Stammes auf Stelzen tanzten. Er fügte detaillierte Zeichnungen bei. Er schrieb ausführliche Analysen der Evolutionsgeschichte des von ihm erfundenen Tieres. »Ich möchte sehen, ob du es merkst, wenn ich Spaß mache, John«, sagte er, wenn sein Sohn enttäuscht war.
    Aber, dachte John und starrte auf den letzten Satz des Briefes – aber man macht wohl kaum Spaß, wenn man stirbt. Elaine zum Beispiel würde niemals so einen witzigen Anruf machen, wenn sie sterbenskrank wäre.
    Peter, der Sportjournalist, kam nach Hause, und dann Jean-Pierre, Johns französischer Mitbewohner. Sie plauderten ein bisschen. Peters junge Freundin war auch da und hatte eine Flasche Wodka mitgebracht. Sie war Rumänin. Wie immer stritten die beiden sich. Petra flirtete gerne. Sie war hübsch. Jean-Pierre spielte mit und schenkte die Drinks ein. Er war groß und hatte ein zwanghaftes Lachen. Da sie keinen Mixer besaßen, steckten sie den elektrischen Quirl in eine Tomatendose. John war froh, dass er eine englische Freundin hatte, bei der man wusste, woran man war. Keine Sprachbarrieren oder kulturellen Unterschiede. Und schamlos flirten tat sie auch nicht.
    »Na, mein ’übscher? ’ast du dich gut amüsiert in Indien?«, fragte Petra mit rumänischem Akzent. »’ast du ein paar schöne,ge’eimnisvolle indische Mädchen verführt?« Sie versuchte, wie eine Bauchtänzerin mit den Hüften zu wackeln.
    »Der Ärmste ist doch zur Beerdigung seines Vaters gefahren«, protestierte Peter.
    John ließ die anderen in der Küche zurück und ging auspacken. Die Elefanten steckten in einer Plastiktüte, zusammen mit schmutzigen Socken und Unterhosen. Er stellte sie auf den Nachttisch. Vom größten war ein Teil des Rüssels abgebrochen. Der kleinste wirkte auf einmal sehr grob geschnitzt. Warum habe ich sie gekauft? fragte er sich. »Drei Elefanten, Sir, nicht nur einer.« John saß da und betrachtete die Dinger. Er konnte sie kaum verschenken, ohne das fehlende Teil wieder anzukleben. Wieso ist er zerbrochen? würde Elaine wissen wollen.
    »Telefon für dich, Johnny!«, rief Jean-Pierre.
    Er hatte es nicht gehört. Sie brachten ihm den schnurlosen Apparat.
    »Wie lief’s?« Simon, der Leiter des Forschungsprojekts, zeigte Respekt. »Geht’s deiner Mutter einigermaßen?« Dann erklärte der Mann, dass Glaxo ihnen tatsächlich neuerdings ein bisschen die kalte Schulter zeigte. Sie wollten konkrete Ergebnisse sehen, ehe sie die Verlängerung der Fördermittel zusagten. Nicht so sehr wegen dem, was die Australier veröffentlicht hatten, sondern wegen einer bevorstehenden Zusammenlegung von Instituten in verschiedenen Ländern. »Wir sollten uns morgen zusammensetzen und schauen, was wir ihnen an Zwischenergebnissen bieten können.«
    Es war zehn Uhr. Ohne seinen Mantel anzuziehen, verließ John die Wohnung. »Ich warte bei dir«, schrieb er per Handy an Elaine.
    Der Januarwind war aufgefrischt. Es war ein langer Weg die Edgware Road hoch bis nach West Hampstead. Die Sachen, die John trug, waren zu leicht. Plötzlich sah er seinen Vater vor sich, schlaksig, mit schütterem Haar, wie er nackt über eine weiteSandfläche stolperte. Er spürte eine stechende Traurigkeit, verbunden mit Scham. Der Tod meines Bruders war die Folge einer hässlichen Dreieckskonstellation . Wieso hatte Dad diese alte Geschichte wieder ausgegraben? Johns Großvater war mit seinen Forschungen auf dem Gebiet der Genetik berühmt geworden. John hatte das Buch, das er geschrieben hatte, nie gelesen. Wollte Dad mir etwas über meine Karriere mitteilen: dass er Großvaters Eigenschaften als Korrektiv brauchte, und ich dafür seine? Wie er/sie vielleicht … mich braucht . So hatte er fortfahren wollen. Von wegen! Dann wurde John klar, dass sein Vater vermutlich den Brief genau deshalb an der Stelle abgebrochen hatte, weil er unfähig war, das aufzuschreiben, die Worte mich braucht zu schreiben. Tränen stiegen ihm in die

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